von Harald Klingler
Ich bin ein armes Kind aus Schwaz. Vor längerer Zeit war ich ein richtiger Vogelnarr, wie er im Buch stand. Kein Tag verging, an dem ich nicht mit Lockvögeln und Leimruten in die nahen Berge stieg, um die armen Vögel zu Hunderten zu fangen. Doch das hat sich geändert. Hier will ich erzählen, wie es dazu kam.
An einem Sonntagmorgen im Spätherbst ging ich wieder meiner Leidenschaft nach und wanderte zur benachbarten Geißlehne, um dort oben mein Glück zu versuchen. Bald hatte ich einen freien Platz gefunden , wo die Vögel einen schönen Anflug hatten, und richtete meine Lockmittel auf. Alles ging nach Wunsch. Die Lockvögel taten ihre Schuldigkeit und die betrogenen Waldvöglein gingen mir auf den Leim. Im Flug vergingen die Stunden, und ich merkte gar nicht, dass es höchste Zeit war, wenn ich zur Zehn Uhr Messe in Schwaz noch zurechtkommen wollte.
Plötzlich sah ich einen wunderschönen Gimpel, dessen Brust in der hellen Morgensonne glänzend rot leuchtete. “Ha”, dachte ich, “der muss mein werden, zur Zehn Uhr Messe komme ich noch ganz zurecht. Wenn er nur schon auf der Leimrute säße!”
Der Vogel kam näher und näher ; da hörte ich die Glocken aus dem Tal zum Kirchgang läuten, aber zugleich zappelte der prächtige Gimpel auf dem Leim. Behutsam löste ich ihn von der Rute, reinigte ihm Füße und Flügel und sperrte ihn in einen Käfig aus Eisendraht. Dann eilte ich voll Freude über meinen schönen Fang, aber nicht ohne Reue über die versäumte Messe, den Hang abwärts. Wie ich so dahin rannte, wurde die Last auf meinem Rücken schwerer und schwerer, so dass mir schließlich war, als könne ich den Käfig nicht mehr tragen. Da blieb ich stehen, nahm die Trage vom Rücken und untersuchte alle Käfige, die ich aufgepackt hatte, um zu sehen, was Schuld daran war, dass sie gar so sehr drückten. Entsetzt bemerkte ich, dass der Gimpel glühend rot und so groß geworden war, dass er den Käfig ganz ausfüllte, ja sogar die Gitterstäbe desselben nach außen bog. Er schien noch immer größer zu werden. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Von Grauen gepackt, warf ich den Käfig die Lehne hinunter und rief hinterdrein: “In Gottes Namen, du Teufels Gimpel sollst mich nicht kriegen!” Der Käfig aber kollerte mit großem Lärm den Berghang hinab, und ich sah deutlich, wie der Gimpel einen feurigen Schweif hinterließ.
Seitdem war ich von meiner Leidenschaft geheilt, rührte keine Leimrute mehr an und ließ die armen Vögel in Ruhe. Und Sonntagsgottesdienst versäumte ich auch keinen mehr.
Marie, 14 Jahre
© Harald Klingler 2023-02-13