Die alte Frau und die Taube

KSG

von KSG

Story

An dem Tag, an den ich so oft zurückdenke, war es bereits am frühen Nachmittag dunkel. Ich schaltete das Licht ein und ließ die Rollläden herunter. Es konnte keiner hineinsehen, aber ich fühlte mich beobachtet. Ich stand in der Küche und hörte ein leises Piepsen, wie von einem Vogel. Es kam aus einem der oberen Zimmer. Ich ging langsam die alte, hölzerne, leise knarrende Treppe nach oben. Es ist ein altes Haus, in dem ich wohne. Auf halber Treppe hörte ich ein Flattern. Das Flattern wurde panisch. Ich hörte einen dumpfen Knall und eilte in das Zimmer, aus dem das Geräusch kam. Vor dem Fenster auf dem Boden lag eine weiße Taube. Ich ging vorsichtig näher, sie regte sich nicht mehr. Ich kniete vor ihr und berührte sie leicht mit einem Finger. Ich erinnere mich gut, dass es mich wunderte, wie kalt sich der Vogel bereits anfühlte. Ich ließ ihn zunächst vor dem Fenster liegen und wusch mir im oberen Badezimmer die Hände. Ich schaute mir im Spiegel ins Gesicht. Mir war der Schreck anzusehen, dabei sollte es nicht das letzte sein, was mir an diesem Abend sonderbares passierte. Ich nahm etwas Küchenpapier und ging zu dem toten Vogel. Wie schade um dich, dachte ich, als ich das hübsche Tier mit dem Papier anhob. Mit dem Vogel in beiden Händen ging ich die Treppe nach unten. Im Vorbeigehen schaute ich auf die Uhr im Wohnzimmer, es war fast 18:30 Uhr. Ich ging mit dem Vogel nach draußen. Es war windstill, doch kaum stand ich auf dem kleinen Weg im Vorgarten, kam ein kräftiger Windstoß und die Haustür fiel ins Schloss. Oh nein, auch das noch, dachte ich, denn ich hatte keinen Schlüssel einstecken. Grade in dem Moment, als ich den Vogel unterhalb des Kirschbaums im Vorgarten ablegen wollte, hörte ich eine Frauenstimme. „Bitte entschuldigen Sie, wohnen Sie jetzt hier?“ Ich behielt den Vogel in den Händen und drehte mich zu der Dame, die mich angesprochen hatte. Sie stand vor dem Gartenzaun. Sie war altmodisch angezogen und hatte eine überraschend kräftige Stimme für ihr zerbrechliches Aussehen. „Ja, kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte ich und ging, den Vogel noch immer in den Händen haltend auf sie zu. „Wissen Sie“, sagte die alte Dame, „ich habe früher hier gelebt, das ist schon lange her, aber ich wollte zu gerne einmal wieder herkommen“. Ich lächelte die Dame etwas verlegen an, und sagte, dass ich sie gerne hereinbitten möchte, aber leider die Tür zugefallen war und ich mich selbst ausgesperrt hatte. „Ich würde mich aber freuen, Sie ins Haus zu lassen“. Sie lächelte mich aus hellblauen Augen an. „Lassen Sie doch den Vogel fliegen“, sagte sie zu mir. „Er ist leider gegen die Scheibe geflogen und gestorben“, antwortete ich und hielt ihr den Vogel entgegen. „Darf ich kurz Ihren Garten betreten?“, fragte sie. Ich öffnete das Tor, sie kam herein und nahm mir den Vogel aus den Händen. Er zuckte und flatterte panisch aus dem Papier, in den ich ihn eingewickelt hatte und flog aus den Händen der alten Dame. Ich schaute ihm hinterher, plötzlich war die alte Dame verschwunden. Dann wurde es taghell. Ich hörte einen lauten Knall. Ein Blitz hatte in den Kirschbaum eingeschlagen, der Baum kippte und schlug durch das Küchenfenster ein. Genau dort hatte ich eben noch gestanden. Wie erstarrt schaute ich zu meinem Haus, das anfing zu brennen. Der Brand konnte schnell gelöscht werden. Im Haus waren alle Uhren stehen geblieben. Ein Feuerwehrmann sagte, das sei ein Überspannungsschaden und die Uhrzeit des Blitzeinschlags gewesen. Es war fast 18:30 Uhr.

© KSG 2024-02-24

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Hoffnungsvoll