DIE BEOBACHTERIN IN DER U6

Margaretha Husek

von Margaretha Husek

Story

Ein bisschen frisch ist es zwar noch nach dem gestrigen starken Regen. Die Sonnenstrahlen locken mich aber doch heraus. Um das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, bin ich wieder einmal mit der U6, der zweitlängsten U-Bahn-Linie Wiens gefahren. Wenn ich entspannt in der Bahn sitze, ist das für mich wie eine Fahrt in den Urlaub. Ich bewundere immer wieder die von Otto Wagner verwirklichten Brücken, Stadtbahnbögen und Stationsgebäuden. Die Anlagen sind denkmalgeschützt. Ich finde die U6 eine der schönsten Linien Wiens. Sie schwebt einen guten Teil ihrer Strecke über der Stadt dahin. Sie ist mehr Hochschau- als Untergrundbahn, die wunderschöne Ausblicke auf die Vorstadt und den Wienerwald bietet.

Ich ergattere einen Fensterplatz, auf dem man – vorausgesetzt, man wagt es allen Ernstes, bei tropischen Temperaturen sich auf die Plastiksitze hinzusetzen – so herrlich schwitzt, dass der nächste Fahrgast auch noch etwas davon hat.

In der U-Bahn oder in der Straßenbahn höre ich oft Erzählungen, in denen es darum geht, dass ein Erzähler oder eine Erzählerin es dem anderen total reinsagt: „Hab i g’sagt, … hab i g’sagt“. Die U-Bahn lässt viele Benützer gleich einmal an olfaktorische Belästigungen, klaustrophobe Panikattacken und die Kriminalstatistik, Abschnitt Eigentumsdelikte, denken. Weniger gespreizt ausgedrückt: an intensive Gerüche, überfüllte Waggons, fingerfertige Taschelzieher, musizierende Bettler.

In der Station Westbahnhof verlassen viele Menschen mit Trolleys die U-Bahn, um zu den Zügen zu eilen, allerdings kommt auch ein großer Schwung neuer Gesichter in die Waggons. „Andere brauchen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger“, kommt die Durchsage. Eau de Kebab, verrückte Menschen, vom Vorabend in den Klubs der Stadtbahnbögen Übriggebliebene drängen in die U-Bahn. Eine Vielzahl an herumliegenden Gratis-Zeitungen liegen verteilt auf den Sitzen und auf dem Boden. Und irgendwie komme ich zwischen den Stationen Thaliastraße und Spittelau ins Sinnieren über diese U-Bahn-Linie und ihren Ruf als Schmuddelkind der Wiener öffentlichen Verkehrsmittel.

Wien ist ein Konglomerat aller möglichen Nationalitäten. Langweilig wird eine Fahrt mit der U6 üblicherweise nicht. In den Öffis sind die Einheimischen inzwischen sehr oft in der Minderheit.

Beim Blick aus dem Fenster stelle ich fest: Es gibt sie noch, die niedrigen Eckbeisln und die Centimeter-Lokale entlang des Gürtels für Fans von deftiger, preiswerter Küche.

Ab Spittelau kann man irgendwie wieder Parallelen zu den Haltestellen zwischen Siebenhirten und Meidling ziehen. Es ist kaum etwas los. In diese Gegenden verirrt man sich für gewöhnlich nicht, um auf Erkundungstour durch Wien zu spazieren.

Und wer steigt da ein? Ein alter Bekannter, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Der war auch mal jünger. Er schaut sich selbst nicht mehr ähnlich, blitzt es in meinem Kopf. Na ja, wie sieht er mich wohl?

Foto: OE24

© Margaretha Husek 2022-04-16

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