Die erste Liebe und das Heimweh – 2

Elisabeth Otto

von Elisabeth Otto

Story
Frankreich

Leider sollte ich mit meiner Vermutung recht behalten, denn ich hatte fortan das Gefühl, dass ich bei diesem Mann komplett unten durch war, noch bevor ich anfing, überhaupt zu arbeiten und ihn von mir überzeugen zu können. Zum Glück durften wir bald feststellen, dass die meisten Kollegen und Einwohner sehr sympathisch und offen waren. Unser Apartment befand sich nur etwa zehn Minuten Fußweg von unserem Arbeitsplatz entfernt und wurde von uns liebevoll als „Bruchbude“ bezeichnet. Die Unterkunft wurde vom Hotel gestellt, wir mussten also keine Miete zahlen und wohnten dort mit anderen Auszubildenden und Hotelangestellten zusammen. Die Wohnung hatte nur zwei Zimmer inkl. Wohnküche und Badezimmer. Letzteres war während der gesamten Zeit unser Sorgenkind. Es war nicht ungewöhnlich, dass braune Soße aus dem Abfluss der Duschkabine kam, sobald jemand die Toilettenspülung betätigte. Wir hatten es dennoch gut getroffen, da einige der anderen Praktikanten im Keller des Hotels untergebracht worden waren, wo sie sich einen Raum teilten und zum Teil auf einfachen Matratzen schliefen. Außerdem hatten wir in unserem Hausmeister Paolo einen engagierten und kompetenten Helfer gefunden, der für notwendige Reparaturen jederzeit zur Verfügung stand. Nach dem denkbar schlechtesten Start, den man überhaupt haben konnte, überkam mich während der ersten Tage schlimmes Heimweh. Ich vermisste meine Freunde, unsere gemeinsamen Partys, meinen schwarzen Kater und meine Familie. Und das, obwohl ich auch damals schon unheimlich gerne reiste und viel unterwegs war. Ich schrieb in dieser Zeit ein Reisetagebuch, in dem ich all meine Gedanken und Gefühle festhielt.

Doch dann kam der Tag, an dem sich schlagartig alles änderte. Wir waren gerade einmal vier Tage in Frankreich, die Aussicht auf mehr als elf weitere Wochen machte mir zu schaffen, aber ich hatte einen freien Tag und beschloss gegen Abend, noch einmal an den Strand zu gehen. Die Tatsache, dass ich direkt am Meer wohnen durfte, wog vieles auf. Ich ging spazieren, setzte mich zwischendurch in den Sand, las und beobachtete nebenbei einen jungen, gutaussehenden Franzosen beim Schwimmen. Er schien ebenfalls alleine unterwegs zu sein. Als er plötzlich auf mich zukam, tat ich, als sei ich in mein Buch vertieft. Er blieb neben meinem Handtuch stehen und redete auf Französisch auf mich ein. Da ich nur die Hälfte verstand, unterbrach ich ihn und bat darum, die Konversation vorerst in Englisch weiterzuführen. Ich war noch immer ein wenig irritiert, dass er mich überhaupt angesprochen hatte, wir unterhielten uns sehr nett und beschlossen spontan, noch etwas trinken zu gehen. Als wir gerade auf dem Weg in ein Café waren, kam uns zufällig meine Freundin und Mitbewohnerin entgegen. „Oh, hi, hast du schon Feierabend? Das ist Pierre, wir haben uns gerade am Strand kennengelernt und wollten jetzt noch was trinken gehen“, rief ich ihr gut gelaunt entgegen. Sie schloss sich uns an und wir verbrachten einen lustigen Abend miteinander. Pierre wohnte allerdings nicht in Carnac, sondern etwa eine Viertelstunde Fahrtzeit entfernt, im kleinen, idyllischen Städtchen Ploemel. Er begleitete uns anschließend zu unserer Wohnung und fragte mich nach meiner Telefonnummer, die ich ihm selbstverständlich gern gab.

© Elisabeth Otto 2023-09-25

Genres
Romane & Erzählungen, Reise
Stimmung
Emotional, Unbeschwert, Funny