Die Frau am Brunnen

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story

Die Stelle des Jakobsbrunnen in Nablus erzählt eine der schönsten biblischen Geschichten. Das vorzüglich frische Wasser entspringt einer Quelle in mindestens 30m Tiefe – ein besonderer Segen in dem wasserarmen Gebiet.

Der Name geht auf den biblischen Patriarchen Jakob zurück, der auf seinen Wanderungen in dieser Senke seine Zelte aufschlug und für sich und sein Volk einen Brunnen grub. Auf den Ruinen der ersten Kirche aus dem 4.Jh. wurden immer wieder Gotteshäuser gebaut und wieder zerstört. Der Jakobsbrunnen aber existiert heute noch.

Dieser Brunnen hat eine besondere Bedeutung für mich. Als ich das Begräbnis für meine Mutter vorbereitete, schlug ich wie zufällig die Bibel auf und landete beim Jakobsbrunnen. Keine andere Geschichte aus dem Alten Testament hätte passender sein können.

“Da kommt ein Weib aus Samaria, Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken. Sie reicht ihm das aus dem Brunnen geschöpfte Wasser und Jesus spricht: Wer von diesem Wasser trinkt, der wird wieder dürsten, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, der wird ewiglich nicht dürsten.“ (Joh.4,13,14)

Meine Mutter hat allen Besuchern zu trinken angeboten, ob Wasser, Tee, Kaffee, Bier oder Schnaps und sie gab den Menschen mehr, sie horchte ihnen zu. Sie selbst blieb eine Dürstende. Jetzt ist ihre Sehnsucht für immer gestillt.

Samariter sind eine sehr alte, geschlossene jüdische Gruppe, die von den Juden nicht anerkannt wird. Sie waren Fremde, in damaliger Sprache Heiden. Auch die Samariter wollen mit den Juden nichts zu tun haben. Umso bedeutender sind die zwei Begebenheiten, die Jesus erzählte: “Die Samariterin am Jakobsbrunnen” und “Der barmherzige Samariter”, der einem verletzten Juden selbstlos hilft.

Eine kleine Gemeinschaft der Samariter lebt heute noch in Nablus, einer Stadt in den palästinensischen Autonomiegebieten, im nördlichen Israel. Viele palästinensische Flüchtlingslager sind hier anzutreffen.

Ich war ein sehr frommes, gelehriges Kind und kenne die meisten biblischen Geschichten heute noch. Ich habe auch Hintergründe und Interpretationen in einem wissenschaftlichen theologischen Kurs studiert. Heute sind es für mich wertvolle Geschichten, deren Glaubens- oder Wahrheitsgehalt nicht mehr so wichtig ist, die aber viel mit meinem Leben zu tun haben.

Meine Cousine ist Malerin und hat einen starken Bezug zur Bibel. Ich bat sie, nach einem Foto meine Mutter zu malen, als die Samariterin am Brunnen. Sie schuf ein Aquarellbild, das genau den Ausdruck der Augen meiner Mutter in einer fremden Welt wiedergibt.

Damals wählte ich dieses Motiv intuitiv – heute weiß ich es genau: Sie war eine Samariterin. Sie war die Frau am Brunnen – genügsam, bescheiden, hilfsbereit, aber mit diesem Durst nach Mehr.

Ich trank Wasser aus diesem Brunnen.

© Christine Sollerer-Schnaiter 2021-03-28