Die Giraffenfrauen

Ulrike Sammer

von Ulrike Sammer

Story

Wir lagen unter einem großen zeltartigen Moskitonetz. Die ganze Nacht schrie ein Vogel lauthals. Da mein Mann und ich kaum schlafen konnten, machte es uns nichts aus, dass wir ziemlich früh schon zum reich gedeckten Frühstücksbuffet gehen mussten, denn um 8 Uhr sollten bereits alle Koffer und wir im Boot sein um unsere Tour auf dem burmesischen Inle-See fortzusetzen.

Wir kamen an überraschend großen Pfahlsiedlungen vorbei, denn 60000 Menschen leben auf dem Fluss. Bei einer der Hütten blieben wir stehen und kletterten die Leiter hinauf zur Hütte von zwei Padaung-Frauen, die eine ungewöhnliche Tradition pflegen: seit ihrer Kindheit tragen sie schwere Halsringe, die die Schultern deformieren und den Hals scheinbar verlängern. Diese „Giraffenfrauen“ leben in Schaudörfern und werden heute für den Tourismus vermarktet.

In Anlehnung an den Ursprungsmythos, demzufolge die Padaung von einem gepanzerten weiblichen Drachen abstammen, tragen die Frauen den Halsschmuck um an ihre mythische „Drachenmutter“ zu erinnern. Je höher die Spirale, umso höher der Rang der Trägerin, ihr Ansehen und die Heiratschancen stiegen mit der Anzahl der Windungen. Es handelt sich um Spiralen, die erst beim Anlegen durch geübte Frauen an die Körperform angepasst werden. Lange wurde gerätselt, wie sich die Halswirbelsäule der Frauen derart verlängern konnte. Durch eine Röntgenuntersuchung wurde das Geheimnis gelüftet: Zur Überraschung waren weder die Wirbel noch die Bandscheiben gedehnt. Stattdessen hatte sich der ganze Schultergürtel samt Schlüsselbeinen und oberen Rippen durch das Gewicht des Metalls so stark keilförmig nach unten verformt, dass der Eindruck eines extrem langen Halses entstand.

Den ersten Halsschmuck, eine Spirale von rund 10 cm Höhe, erhalten die Mädchen im Alter von etwa fünf Jahren. In der Zeremonie werden ihnen auch silberfarbene Armreifen und Spiralen unter den Knien angelegt. Ihrem Wachstum entsprechend nimmt man die Halsspirale alle zwei bis drei Jahre wieder ab und ersetzt sie durch ein schwereres Exemplar mit mehr Windungen. Mit rund 15 Jahren kommt die Schulterspirale dazu und als Erwachsene erhalten die Frauen jenen Schmuck, den sie vielfach auf Lebenszeit tragen: Die Halsspirale weist dann 20 bis 25 Windungen auf. Zusammen mit der Schulterspirale kann der glänzende Turm mehr als 30 cm über die Schultern aufragen. Bis zu 10 kg wiegt dieser Panzer, zwischen 15 und 20 kg kommen an Armen und Beinen dazu. Das kostet Bewegungsfreiheit, erschwert das Schlucken und die Hygiene. Nach jahrelangem Tragen kommt dem Panzer eine beachtliche Stützwirkung zu, ohne die der Kopf nur unter Anstrengung aufrecht gehalten und kaum gedreht werden kann. Frauen, die den Halsschmuck ablegen, klagen über starkes Unbehagen: Sie behelfen sich mit Nackenstützen. Die Gefahr, sich bei einem Sturz das Genick zu brechen ist erhöht. Während sich die Halsmuskulatur erholt, sind die Deformationen des Skeletts irreversibel.

© Ulrike Sammer 2021-06-22

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