Die Herbstzeitlose

Tobias March

von Tobias March

Story

Heute war es so weit. Heute würde ich zum letzten Mal in meinen Garten gehen und auf meiner Bank sitzen. Zum letzten Mal würde ich die grüne Natur um mich herum aufnehmen können, die Farben, das wärmende Licht der Sonne.

Sobald ich saß, zog ich meine Schuhe aus und spürte es, das feuchte Moos, das frische Frühlingsgras und die alten, vertrockneten Blätter an meinen nackten Füßen. Sie zerbröselten zu feinem Staub unter meinen Fußsohlen und ich musste an mein Leben, mein Leib denken, der auch so zerbröseln würde. Unter der Fußsohle der Zeit.

Nein, ich konnte nicht gehen. Ich liebte sie viel zu sehr, die frische Morgenluft, die mich immer sofort zur Ruhe brachte, das würde ich dort, wo man mich hinschicken wollte nicht mehr haben! Dort würden auch im Herbst die Sonnenstrahlen nicht durch die buntgefärbten Blätter der hohen Laubbäume linsen und ein fleckiges Muster auf mein Häuschen werfen. Nein, ganz bestimmt nicht! Und die hätten auch sicherlich kein Garten, keine Bäume und auch keine Bänke. Niemand würde eine Bank wie meine haben.

Vor so vielen Jahren das ich mich sie gar nicht zu zählen traue, als alles noch gut war, als wir unser Leben und unser Glück aufbauten, unsere Liebe jung war, hatten wir sie gemeinsam gebaut, vor unser Häuschen hin. Ich half ihm mit dem Zurechtschneiden der Latten, und lackierte unsere Bank noch. Das Leben war komplett und wahrhaftig schön. Ich sehe es noch genau vor mir, wie ein silbrig scheinender, dünner Faden der Erinnerungen. Am liebsten würde ich ihn packen, mich an den schönen, guten und jungen Zeiten festklammern und in ihnen ewig fort leben.

Doch ich weiß, dass man die dünnen Erinnerungen nicht festhalten kann. Krampfhaft versuchend zu überleben. Man muss loslassen, das Geliebte, den Geliebten, all das Gute, all das Schlechte. Schmerzhaft musste ich immer wieder aufs Neue lernen, dass jeder von uns nur ein Blatt im Wind ist, getrieben und abhängig von den Jahreszeiten. Mein Mann starb, die Bank witterte ab, Farben verblassten, die eine Latte unter mir, die in der Mitte, brach weg. Wie Teile meiner Seele zersplitterte sie zu morschen Resten. Der Garten verwilderte wie mein Leben auch, doch ich sitze noch hier.

Ich werde nie mehr Kontrolle haben, als in diesem einen bewussten Moment. Der letzte Abschied von meinem Garten, von meinem Mann, von unserer Verbindung, dem Bänkchen.

Gefasst streichle ich ein letztes Mal über die kleine verwitterte, sich loslösende Farbkleckse und stehe auf.

Bevor ich alles vergessen würde, bevor ich dich nicht wiedererkenne und du mir fremd bist, Leben und Garten, bevor ich ins Heim komme, anderen zur Last falle, falle ich lieber hier, in meinem geliebten Garten.

Eine Träne tropft auf die Erde. Ich werde gehen, selbstbestimmt und frei. Selbst verwildern, wie meine geliebten Pflanzen, Sträucher, Bäume, Halme. Hinterm Häuschen, unterm großen Lindenbaum, dort sind meine Herbstzeitlosen, meine Freunde.

Nur zwei Bissen, und ich werde wieder eins mit meinem Garten, meinem Ich.

© Tobias March 2021-03-12

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