von Pia Steinberg
Das Leben mit einem Influencer stellen sich die meisten Menschen erlebnisreich und aufregend vor, als würde Instagram ab 100.000 Followern Ritterrüstungen für besondere Verdienste verleihen. Mir war seine Bekanntheit von der ersten Sekunde an völlig gleichgültig. Ich bewerte einen Menschen nicht nach der Zahl seiner Abonnenten. Schließlich kann der Eindruck der Person hinter der Kamera täuschen, genauso wie das Internet mit weisen Sprüchen prahlt, die es wie endlose Schätze aus Mary Poppins‘ Tasche zieht.
Viele Trennungsratgeber würden ungelesen bleiben, wenn wir genauer in die gelebten Beziehungen der Autoren blicken könnten. Und dennoch habe ich ihn mit Liebe und Hingabe dabei unterstützt, seine Ziele auf dieser Plattform zu verwirklichen. Niemals hätte ich mir ausgemalt, dass sein Zugang zu Tausenden Menschen der perfekte Nährboden für den Verrat an seiner eigenen Freundin sein würde.
Dass er mich in den ersten Wochen unserer Beziehung online nicht gezeigt hat, empfand ich angesichts unseres Wunsches, uns in Ruhe und ohne Druck kennenzulernen, als ehrenwert. Wer hätte ahnen können, dass andere Frauen nichts von mir wissen sollten, weil sie selbst glaubten, mit ihm eine Beziehung zu führen?
Als wir uns kennenlernten, sprach er in großen Worten davon, die wahre Liebe zu suchen. Mein Fehler war es, hier nicht genauer nachzufragen. „Suchen“ ist ein weit verbreitetes Wort – ich suche ständig nach meinen Schlüsseln oder meinem Handy und stelle dafür das ganze Haus auf den Kopf. Auf der Suche nach der Liebe hat er jede Frau umgedreht, die sich ergiebig in seine Hände legte, und sie nach gründlichem Betasten in sein Schmuckkästchen gelegt: sein Handy.
Unsere ersten gemeinsamen Videos waren für mich der Beweis seiner Treue und Ernsthaftigkeit. Mit voller Absicht habe ich mein öffentliches Profil auf privat gestellt, um seine Liebe zu genießen, anstatt seine Reichweite zu teilen.
Keines dieser Videos hielt ihn davon ab, in Krisenzeiten einen Stein aus seinem Schmuckkästchen zu nehmen und zu prüfen, ob dieser weniger scharfkantig und feiner geschliffen war. Als die Leute schließlich anfingen, Steine zu werfen, war ich diejenige, die sich schützend vor ihn stellte, während er sich daran erfreute, dass ein Reel viral ging, und mich den Hunden zum Fraß vorwarf. Schließlich war sein Erfolg harte Arbeit, während eine Umarmung und eine leere Entschuldigung mich besänftigen sollten.
All die Momente, die er mit mir und der ganzen Welt geteilt hat, sind nun tief in den Abgrund geworfen, wie Steine, die auf den Meeresgrund sinken. Doch seine Sprüche und Zitate treiben weiter an der Oberfläche und lassen die Menschen glauben, dass er das, was er sagt, auch lebt.
© Pia Steinberg 2024-08-29