Die Mandarinenkiste

Daniel Selent

von Daniel Selent

Story

Daniel wuchtet sich den schwarzen Sack mit Plastikmüll über die Schulter und lässt umständlich die Kofferraumtür zuklappen. Er geht um das weiße Auto herum und auf die metallene Treppe zu, an deren oberem Ende bereits Leute stehen und ihren Müll in den Container werfen. Mit leerem Blick nimmt er jede Stufe einzeln und reiht sich hinter einen älteren Herren ein, der gerade einen randvollen Sack mit Plastik in den Container wirft. Zufällig fällt Daniels Blick auf den schmutzig-weißen Gartenstuhl, auf dem jemand eine Mandarinenkiste voller gebrauchter Taschenbücher abgestellt hat. Eine junge Mutter und ihre Tochter kramen darin herum, schauen sich eselsohrige Kinderbücher und Zeitschriften an, drehen sich dann desinteressiert um und steigen quasselnd die Treppe hinab. Als der alte Mann für Daniel Platz macht, wirft der junge Mann seinen schweren schwarzen Sack in den bereits gut gefüllten Container und wendet sich dann der Mandarinenkiste zu.

Lesen ist seine größte Leidenschaft, direkt gefolgt vom Geschichtenschreiben. Nur stellt sich das Lesen bereits verfasster Romane als deutlich einfacher heraus, als selbst welche zu schreiben. Deswegen blickt Daniel mit ehrlichem Mitgefühl auf all die Namen herab, die auf den zerlesenen, zerknickten, zerstörten Taschenbüchern prangen, und fragt sich, ob die Autoren ihre Arbeit gern auf dem Müll wiederfinden würden.

Er streicht zärtlich über die vergilbten Seiten eines Moby Dick, nimmt einen viel geliebten Bradbury aus der Kiste und hält die nach Zimt duftenden Seiten an die Nase. Um sich herum spürt Daniel den Alltag des Wertstoffhofs in den Hintergrund rücken, der Duft und die Haptik der alten Bücher katapultieren ihn in die Vergangenheit zurück, als Bücher noch etwas Magisches, Geheimnisvolles an sich hatten.

Daniel wühlt in der Mandarinenkiste herum wie eine Oma im Ein-Euro-Laden, schiebt Kinder- und Wörterbücher beiseite; er ist weniger auf der Suche als vage interessiert, was es in dieser Schatzkiste sonst noch so gibt. Das Meiste davon kennt er schon, oder es interessiert ihn nicht. Dann hält er plötzlich inne, als er den Boden der Manadarinenkiste erreicht hat.

Auf dem grob geschnittenen Holz der Kiste liegt ein rotes Notizbuch, in rotes Leder gebunden und mit Seiten so weiß und neu, dass sie Daniel mit ihrem Leuchten in den Augen brennen. Das Rot wirkt wie ein Warnsignal, das Leder ist glatt und geschmeidig. Das Buch fühlt sich gut an, als Daniel es aus der Kiste und in die Hände nimmt. Er dreht es im wolkenverhangenen Sonnenlicht umher, klappt den Buchdeckel auf und lässt die Seiten knisternd umblättern. Sie sind leer, unbeschrieben, machen den Eindruck, als würden sie jedes Wort, mit Tinte oder Kugelschreiber geschrieben, sofort und unwiederbringlich aufsaugen und in sich abspeichern.

Hinter sich spürt Daniel eine zögerliche Hand, die sich auf seine Schulter legt. „Darf ich?“, fragt eine zerbrechliche Stimme. Daniel dreht sich um und schaut einer alten Frau ins Gesicht, die nun auf die Mandarinenkiste deutet. „Ich würde da gern etwas ablegen.“

© Daniel Selent 2024-11-25

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Herausfordernd