Die Pistole – 12. Die Pistole

von Adam Reichert

Story

„Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie sich zurückwünscht, hat keinen Verstand“, sagte das politische Oberhaupt der Nation vor nicht allzu langer Zeit. Dieses Zitat verkörperte die Pistole. Was auch immer die Pistole einst war – ob gut oder schlecht, ob die Vision eines Revolutionärs oder der Fiebertraum eines Wahnsinnigen – sie hatte für kurze Zeit wahrhaftig existiert und war sogleich von der Erdoberfläche verschwunden. Ihr Vermächtnis blieb aber bestehen, durchlief über die Jahre hinweg einen fortwährenden Entwicklungsprozess und wurde letzten Endes zur Gegenwart. Natürlich konnte und durfte sie nicht in derselben Form existieren, wie sie es einst tat, denn das würde nur zur zwangsläufigen Wiederholung der allseits bekannten Geschehnisse führen. Gleichzeitig musste der Prozess, den sie bei ihrer Entstehung als auch Neuentstehung durchlief, stets derselbe bleiben, um sie ihrer Wesenheit als Pistole nicht zu berauben.
Nun darf die Pistole verständlicherweise nicht als einzigartiges Exemplar erachtet werden. Jedes Objekt und Geschöpf durchläuft innerhalb der Grenzen dieser Nation denselben Prozess und wird während dieses gezwungen, die dementsprechende Form, Farbe und Vernunft anzunehmen. Zuwiderlaufende Resultate sind nicht erwünscht und werden ebenso wenig toleriert. Doch was sollte geschehen, wenn dieses in die Jahre gekommene Fundament nicht mehr die Bauten der Neuzeit zu tragen vermag und somit jegliche Aussicht auf eine Zukunft in Prophezeiungen des Ruins verwandelt? Die Antwort auf diese überaus komplizierte Frage ist erstaunlicherweise äußerst simpel. Nichts vermag die Ewigkeit zu überdauern, und so wird der Verfall zum natürlichen Ergebnis jeder Entwicklung. Kommt dieser Prozess nur schleichend voran, kann ihm jederzeit nachgeholfen werden. Das Problem ist jedoch von vollkommen andersartiger Natur. Ist der Zusammenbruch erst eingetreten, stellt sich die Frage, nach welcher Blaupause die Zukunft konstruiert werden soll. Ist der Blick hierbei stets rückwärtsgewandt, sodass man lieber in stolzer Erinnerung an das bereits Geleistete schwelgt, anstelle den Weg nach vorne im Auge zu behalten, werden sich Stürze samt Verletzungen stets aufs Neue ereignen. Um sich vor diesem Schicksal zu retten, muss vor allem das Herz lernen zunächst Reue zu verspüren, dann Mitgefühl zu entwickeln und schließlich, wie soll es anders sein, muss Liebe und Fürsorge in die Zukunft investiert werden.

© Adam Reichert 2024-06-24

Genres
Romane & Erzählungen, Humor& Satire
Stimmung
Dunkel, Reflektierend