Die Rückfahrt

Carsten Neumann

von Carsten Neumann

Story
Deutsches Reich 1944

Nachdenklich betrachtet er seine Tochter, die ihm gegenüber sitzt, den Blick abwesend aus dem Fenster gerichtet. Die Soldaten, mit denen sie die Holzbänke in ihrem Abteil teilen müssen, hängen ihren eigenen Gedanken nach. Gestern war das anders, für die Kameraden, mit denen sich ihr Bruder Walter das Zimmer teilt, war ihr Besuch eine erfreuliche Abwechslung im tristen Lazarett-Alltag.

Doch am größten war die Freude natürlich bei ihr, Walter und ihm selber. Schließlich waren sie alles andere als sicher gewesen, sich noch einmal wiederzusehen. Die Verletzung seines Sohnes war an sich natürlich wenig erfreulich, doch so war sein Einsatz an der Westfront zumindest vorerst zu Ende und Walter damit in relativer Sicherheit.

Letzte Woche hatte er selber noch in der Zeitung gelesen, dass Paris gefallen war und was Walter ihm gestern erzählt hatte, war besorgniserregend. Die Alliierten rückten immer weiter vor und auch Unkel am Rhein, wo Walter im Lazarett lag, wurde zunehmend Ziel von Bombenangriffen. Gut möglich also, dass sie sich gestern zum letzten Mal gesehen haben.

Auf der Suche nach Ablenkung beginnt er, sich das Formular genauer anzuschauen, das er schon die ganze Zeit nervös in seinen Händen hält. „Antrag auf Fahrpreisermäßigung“ heißt es und bedeutet, dass sie für diese Fahrt in der 3. Klasse nur den halben Preis zahlen mussten. Die Kehrseite ist eine Menge Bürokratie, denn natürlich musste dies erst beantragt und sowohl am Bahnhof als auch vom besuchten Lazarett abgestempelt werden. Die Erkenntnis, dass dasselbe Formular auch zum Besuch der Beerdigung gefallener Kriegsteilnehmer genutzt wird, versetzt ihm einen Stich. Ob er es wohl später noch einmal wird beantragen müssen?

Traurig schaut auch er aus dem Fenster auf die vorbeigleitende Landschaft. Doch auch das graue regnerische Herbstwetter taugt nicht zur Aufmunterung.

tak-tak … tak-tak … tak-tak … der monotone Rhythmus der Schienenstöße lässt ihn wegdämmern, er denkt zurück an seinen eigenen Lazarett-Aufenthalt. Damals, 1917, war er mit 19 Jahre ebenfalls an der Westfront eingesetzt. Eine Verletzung durch einen Granatsplitter brachte ihm einen längeren Aufenthalt im Lazarett ein. Bis heute sind die Beschwerden nicht ganz verschwunden und oft genug hatte er seine Verletzung verflucht. Doch rückblickend war sie ein großes Glück, denn sie beendete nicht nur den damaligen Krieg für ihn, sondern bewahrte ihn auch davor, im aktuellen Krieg erneut eingezogen zu werden, wie es einigen seiner damaligen Kameraden passierte.

Doch soll er seinem Sohn nun das Gleiche wünschen? Lebenslange Schmerzen oder Beeinträchtigungen? Wenn ihm das das Leben rettet, vielleicht ….

Wobei es ja reichen würde, wenn er nur lange genug dienstunfähig bliebe, um den aktuellen Krieg zu überleben. Lange konnte dieser schließlich nicht mehr dauern …

© Carsten Neumann 2023-05-25

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Dunkel, Emotional, Reflektierend, Traurig
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