Die Schnitterin

Wolfgang Broer

von Wolfgang Broer

Story

Der Garten rund um das Elternhaus war groß. Zwischen den bekiesten Wegen, den Blumenrabatten und Gemüsebeeten breiteten sich saftige Wiesen aus. Da die Flächen viel zu groß waren, um von uns selbst gemäht zu werden, erledigte jedes Jahr die etwa achtzehnjährige Tochter eines Kleinhäuslers diese Aufgabe.

Stand das Gras im Garten hoch genug, erschien sie und öffnete unser Gartentor. Sie zog eine zweirädrige Karre hinter sich her. Auf dem lagen die blitzende Sense und der Holzrechen. Sie trug schmucklose Kittel, die immer leicht nach Heu, Schaf und Stall rochen. Das blonde Haar war zu einem langen Zopf und dieser wiederum zu einem Kranz auf ihrem Kopf gewunden. Ihr Gesicht mit den rehbraunen Augen blieb stets merkwürdig ausdruckslos. Den Mund öffnete sie nie, kein Wort kam über ihre Lippen.

Sie prüfte die Gartenflächen, die sie mähen sollte, miteinem kurzen Blick, zog dann den Schleifstein aus dem um die Hüfte geschnallten Kumpf, stellte die Sense verkehrt und begann zu wetzen. Danach drehte sie die Sense um und begann ihre Arbeit. Mit kraftvollen, gleichmäßigen Schwüngen begann sie die glänzende Schneide in die Gräser fahren zu lassen, die sich mit einem leichten Seufzer zur Seite legten und dann ordentlich gereiht in ihrem Sterben dalagen. Ich bewunderte die Schnitterin und wollte unbedingt die Kunst des Mähens und auch des Schleifens der Sense erlernen.

Ich werde wohl so um die 10 Jahre alt gewesen sein, als ich mir ein Herz fasste, und sie bat, sie möge mir zeigen, wie man die Sense führt, das Gras mäht und die Schneide mit dem Wetzstein schärft. Ich erwartete keine Antwort. Zu meiner Überraschung sagte sie jedoch: „Weiß’ nit, ob‘s geht. Bist no‘ sehr klein.“ Sie winkte mich aber heran, drückte mir die Sensengriffe in die Hände. Sie stellte sich hinter mich, presste ihren Oberkörper an meinen und begann nun mit mir, ihre Hände auf meinen Händen, die Sensenschwünge auszuführen. Und siehe da, das Zischen der Schneide im Grün war zu hören, die Halme fielen, und es schien es mir, als verneigten sich die Gräser vor dem Fallen irgendwie anerkennend in meine Richtung.

Dieses gemeinsame Mähen, der Takt der Schwünge, das rhythmische Auf und Ab, das leichte Stöhnen, das uns beiden dabei über die Lippen fuhr, der Wirbel und Taumel, der sich ob der ungewohnten Anstrengung in meinem Kopf ausdehnte – das war aufregend. Ich spürte ihre Wärme, ich roch ihren Schweiß in den behaarten Achselhöhlen, fühlte ihre Brüste an meinem Rücken. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, ich meinte mein Blut rauschen zu hören, mein Gesicht glühte. Da sagte sie unvermittelt: „Genug für heute. Hab` noch viel zu tun.“ Ich war traurig.

Ich durfte aber am nächsten Tag wieder kurzen Unterricht bei ihr nehmen. Und so ging das noch mehrere Sommer lang. Irgendwann ist die Schnitterin ausgeblieben. Ich kann heute noch, im hohen Alter, ganz gut mit der Sense umgehen. Ich habe das ihr, der Namenlosen, zu verdanken. Und auch noch ein wenig mehr.

© Wolfgang Broer 2021-04-19