Die schwangere Auster

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

In den 70er und 80er-Jahren gehörten Klassenreisen nach Berlin in den meisten Schulen zum Pflichtprogramm. Das umfangreiche Kulturangebot der Stadt, die nach dem Krieg sich rasant entwickelnde Infrastruktur, vor allem aber die politische Situation von Westberlin (3 Besatzungszonen plus Ostberlin) – auf der Welt einmalig (außer Wien – bis 1955 in 4 Zonen geteilt) – waren Gründe für Klassenfahrten. Außerdem konnten wegen der Bundeszuschüsse die Reisekosten sehr niedrig gehalten werden. Man wollte eben den besonderen Status immer wieder bewusst machen.

Aufgrund der besonderen Situation wurde Westberlin von der Bundesrepublik so bezeichnet, während für die DDR Ostberlin – auf dem Gebiet der DDR – die Hauptstadt war. Deshalb durften eine Zeitlang zwar Bundesdeutsche nach Ostberlin reisen, nicht aber Westberliner. Die Hauptstadt der Bundesrepublik war Bonn.

Bedingungen für den Erhalt der Klassenzuschüsse waren eine ganztägige und eine halbtägige Unterweisung durch politische Referenten, kulturelle Veranstaltungen und eine große Stadtrundfahrt mit Besuch der Mauer.

Während der Stadtrundfahrt zeigte Berlin seine ganze Pracht des Wiederaufbaus – u.a. das Hansaviertel (Berlin-Hamburger Immobiliengesellschaft Hansa). Hier waren ca. 90 % zerstört. Das Hansaviertel blieb in West-Berlin das einzige große innerstädtische (Trümmer-)Gebiet, dessen Aufbau sich an den Vorstellungen der damaligen Moderne orientieren sollte (gelockerte Baustrukturen, viel Grün zwischen den Bauwerken). Viele internationale Architekten (Aalto, Eiermann, Gropius u.a.) – Verfechter westlich-moderner Vorstellungen beteiligten sich am Aufbau.

Dazu gehörte auch die Kongresshalle – ein Geschenk der Amerikaner zur internationalen Bauausstellung 1957. Bis heute ist diese Halle sehenswert mit ihrem Dach, das sich in hohem Bogen über die Innenräume wölbt – bestehend aus einem Netz von Stahlseilen, an zwei Stahlbögen aufgehängt, mit Beton abgedeckt. Die Berliner gaben der Halle den Spitznamen „Schwangere Auster“. Die Kongresshalle galt und gilt als ein herausragendes Kulturzentrum. Vor der Halle befindet sich H. Moores letzte Bronzeplastik – Large Divided Oval: Butterfly.

1980 standen wir nach Ende der Besichtigung vor dieser Plastik. Ein pfeifendes Geräusch ließ mich zum Himmel blicken, aus dem mit unglaublich sich scheinbar steigernder Geschwindigkeit zwei Punkte auf uns zu bewegten. Wurden größer und entpuppten sich als sowjetische Kampfbomber. Knapp 200 m vor und 300 m über uns drehten sie ab, schraubten sich pirouettenmäßig umeinander in die Höhe, kippte dort über, um erneut parabelartig zurückzuschießen, fingen sich über dem Dach der Halle erneut und düsten nach Ostberlin.

Jetzt erreichte uns der Schall der durchbrochenen Mauer. Ohrenbetäubend gingen wir in die Knie, sahen den beiden MIG’s nach und blickten erstaunt auf die Kongresshalle, deren südliches Dach in gleichen Moment zusammenbrach.

© Heinz-Dieter Brandt 2020-07-01

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