von Mara Mangold
Anna hing über der Kloschüssel. Immer wieder würgte sie Galle hervor, sonst war nichts mehr in ihr drin. Selten hatte sie sich so mies gefühlt. Sie riss ein Stück Klopapier ab, um den ekligen gelben Saft, der ihr übers Kinn geronnen war, abzuwischen. Vorsichtig lugte sie an sich herunter. Alles nochmal gut gegangen, die Business-Bluse war zwar zerknittert, aber unbefleckt. Langsam stieg ihr der unangenehme Geruch der Toilette in die Nase, was sie beinahe wieder zum Würgen brachte. Da war nicht nur ihre Kotze, sondern auch eine Note von abgestandenem Urin und etwas, das sie lieber nicht näher bezeichnen wollte. Jäh stand sie auf und musste sich kurz an der Klotüre festhalten, um dem Schwindel zu entgehen, der ihren Gleichgewichtssinn durcheinanderbrachte. Sie prüfte ihre Strumpfhose – auch das noch. Am Knie, dort, wo es den Boden berührt hatte, in ihrer wenig ritterlichen Pose vor dem Klo, begann sich eine kleine Laufmasche zu bilden. Nackte Beine oder Laufmasche? Sonderlich professionell sah beides nicht aus. Sie entschied sich für Laufmasche – immerhin war sie noch nicht weit fortgeschritten. Schnell betätigte sie den Spülknopf, wusch ihre Hände und gurgelte mit Wasser, um den vergällten Geschmack im Mund loszuwerden. Leider mit mäßigem Erfolg. Mist, eine Minute vor elf. In Windeseile, wenn auch leicht schwankend auf den Beinen, lief sie aus der Toilette in Richtung Laptop, schnappte ihn und die Packung Kaugummis aus ihrer Handtasche. „Ein Stockwerk nach oben in den Meetingraum, beeil dich!“, flüsterte sie sich selbst zu. Sie war vollkommen außer Puste. Ihr Chef saß schon da und wartete, wie peinlich. Mit hochgezogener Augenbraue sah er sie an, verkniff sich aber einen Kommentar. „Bitte beginnen Sie mit ihrer Präsentation“, sagte er nur. Anna nickte mit dem professionellsten Lächeln, das sie sich abringen konnte, klappte den Laptop auf und begann zu sprechen.
Als sie abends um acht zu Hause war, konnte sie nichts mehr tun, als sich aufs Sofa zu setzen. Sie schloss die Augen. Der Tag hatte ihr jegliche Energie aus den Knochen gesaugt. Und das kleine Wesen in ihrem Bauch ebenfalls. Früher hatten ihr lange Tage nicht so zugesetzt. Sollte sie in der Arbeit endlich Bescheid geben, dass sie schwanger war? Und damit ihr gutes Recht nutzen, nach acht Stunden Feierabend zu machen? Nein, ein paar Wochen musste sie noch durchhalten, bis die Entscheidung zur Beförderung gefallen war. Sie wollte nicht riskieren, aufgrund ihrer anstehenden Elternzeit „übersehen“ zu werden.
Endlich kam auch Max nach Hause. Inzwischen war es neun, sie musste auf dem Sofa eingeschlafen sein. Auch er sah müde und zerknittert aus. „Hallo Schatz, wie geht es dir? Du hast ja noch deine Schuhe an!“ Verwundert sah er zu ihren Füßen. Tatsächlich, in der Erschöpfung hatte sie vergessen, diese auszuziehen. Er gab Anna einen Kuss auf die Nasenspitze, zog ihr die Schuhe aus und räumte sie in den altmodischen Schuhschrank, der schon seit Jahren im Eingangsbereich jeder Wohnung stand, die Anna seit ihrem Auszug bei ihren Eltern bewohnt hatte. Auch wenn Max ihn grottenhässlich fand – es kam nicht infrage ihn abzuschaffen, es war ihr Lieblingsstück.
© Mara Mangold 2024-05-23