von Sonja M. Winkler
Mitten in der Dalì-Ausstellung fällt mir plötzlich der Traum der vergangenen Nacht ein. Ich ziehe ernsthaft in Betracht, dass ich nur des Traumes wegen hier bin, gesteuert von meinem Unbewussten.
Dalì kannte die Werke Freuds, die ab den 1920er-Jahren in spanischer Übersetzung vorlagen. Nach der Lektüre der Traumdeutung war er besessen vom Wunsch, Freud zu treffen. Dreimal reiste er nach Wien, jeder Besuch ein Fehlschlag.
Die langersehnte Begegnung zwischen ihm und Freud fand schließlich am 19. Juli 1938 statt, in London. Stefan Zweig hatte das Treffen arrangiert. Man stelle sich vor, Freud, eben erst aus Wien geflohen und im Londoner Exil angekommen, 82-jährig und todkrank, trifft auf den Mittdreißiger, der seine Anerkennung heischt. Freud verwehrt sie ihm. Später, in einem Brief an Stefan Zweig, revidiert er seine Meinung über die Surrealisten und schreibt, sie seien doch nicht alle Narren, für die er sie gehalten habe.
Dalìs Bilder faszinieren durch ihre Vieldeutigkeit. Hier im Unteren Belvedere ist die Auswahl der Exponate jedoch spärlich. Eine Freundin hat mich vorgewarnt. So bin ich nicht enttäuscht. Ich habe genügend Originale gesehen, Gemälde und Skulpturen, anderswo.
Das Faszinierende an Dalìs Bildern ist, dass er Szenarien entwirft, unwirklich und doch möglich in der Welt des Unbewussten, in Träumen, die allerhand Verborgenes sichtbar machen.
Ich decke auch gern Verborgenes auf. Seit ich 15 bin, halte ich meine Träume fest. Wie ich auf diese Idee verfiel, kann ich nicht genau sagen. Den Anstoß gab wohl die Lektüre eines Buches, das ich im Regal meiner Eltern vorfand. Es hieß „Wie bist du, Mensch“, geschrieben von einem Ehepaar namens Bergmann. Meine Mutter erklärte mir später, es sei ein Bestseller gewesen in den 1950er-Jahren und, wie der Widmung zu entnehmen war, ein Hochzeitsgeschenk ihrer Schwägerin. Der Untertitel war vielsagend: „Ein Buch über normales und krankes Seelenleben, Sexualität, Liebe, Ehe und Menschenkenntnis“, allesamt Themen, die mich brennend interessierten und über die zuhause nicht gesprochen wurde. So erkor ich diesen Schmöker zu meinem Lehrbuch. Da muss ich auf Freud und die Psychoanalyse gestoßen sein.
Mir träumte vergangene Nacht, ich saß bei meiner Friseurin und erklärte ihr, dass ich mir die Haare wachsen lassen will. Sie nickte zustimmend und nahm so gut wie nichts weg von der Länge, schnipselte bloß eine bockige Strähne zurecht. Ich war sehr erleichtert. Doch der Traum wirft eine Frage auf. Weshalb hatte ich überhaupt den Friseursalon aufgesucht?
Wenn ich an all die Albträume (wohlgemerkt, sie liegen lange zurück) rund ums Haare-Schneiden denke, in denen ich mit den Armen fuchtelte und schrie, mich gegen die Verstümmelung zu wehren versuchte, immer erfolglos, und dann zurechtgestutzt wurde, dann stellt dieser letzte Traum einen unglaublichen Durchbruch dar, auch wenn ich noch das Einverständnis einer Autorität einholen musste. Ja, ich darf wachsen.
© Sonja M. Winkler 2022-05-25