Die Traumtür

Michaela May-Illichmann

von Michaela May-Illichmann

Story

Keuchend steht sie vor ihrem Haus. Es nieselt. Der Weg durch die Siedlung führt steil hinauf und heißt nicht umsonst Bergstraße. Zu Fuß war sie mit ihrem Koffer und der Kühltasche den Hügel hinauf gestapft. Sie schließt die Türe auf und hält kurz inne. Leicht verschwitzt steht sie da und spürt ein neues Gefühl von Zu-Hause-Ankommen. Seltsam, wie oft ist sie bereits durch diese Tür gegangen? Ganz selbstverständlich. Und heute, nach 4 Wochen vollem Programm und vielen Menschen um sie herum, ist es anders. Es ist still im Haus. Eine Ruhe, die wohltut. Ihr Knusperhäuschen, mit genügend Raum für sie allein. Raum zum Atmen, Ausruhen und sich von innen nach Außen ausbreiten können. Draußen ist der Garten, die Steinwiese, dahinter der Wald. Oben das Himmelsgewölbe, unter dem sie sich an diesem Ort so gut aufgehoben fühlt, wie sonst nirgendwo. Eine offene Weite, wo die Gedanken und Gefühle frei fließen können. Hier ist sie Königin, in ihrem Reich.

Als Kind hatte sie lange kein eigenes Zimmer gehabt. Als fünftes von sechs Kindern, musste sie sich mit einem Kabinett abfinden, das leider ein ungemütliches Durchgangszimmer gewesen war. Raum für sich in Anspruch nehmen, war immer ein unwillkommenes Thema gewesen, das nebenher mitschwingt.

Ein alter, immer wiederkehrender Traum erklärte sich spontan in einem therapeutischen Seminar, in dem es um das Thema Grenzen spüren und seinen Raum einnehmen ging. Sie saß in einem kreisrunden Feld, dessen Begrenzung sie mit Kreide auf den Boden gezeichnet hatte. Der Therapeut kam zu jeder Teilnehmer*in und fragte, wie es sich anfühlt im eigenen Raum zu sitzen. Als sie an der Reihe war, fiel ihr dieser Traum ein.

Sie sah sich in ihrem Kabinett mit Fenster zum Gang liegen, nebenan das Vorzimmer und die Eingangstür zur Wohnung ihrer Kindheit. Diese Türe war mit Metallbeschlägen versehen und hatte einen eisernen Riegel, mit dem man die Türe sichern konnte. Doch im Traum konnte diese Türe nie sicher verschlossen bleiben, weil die Verankerungen zum Türrahmen hin nicht befestigt werden konnten. Es hatte etwas Magisches. Es genügte ein Schubs und die Doppeltüre öffnete sich aus den seitlichen Verankerungen, obwohl sie in der Mitte fest verschlossen war. Das bedeutete, dass Fremde zu jeder Tages- und Nachtstunde ungehindert durch diese Tür in die Wohnung und auch in ihr Zimmer eindringen konnten und sie überfallen, wegtragen oder ihr Gewalt antun konnten. Meist wachte sie mit großer Angst und in Panik auf.

Geduldig hörte sich der Therapeut die Schilderung ihres Traumes an. Und plötzlich schoss es ihr, wie ein Geistesblitz, durch den Kopf. Bis dahin hatte sie diesen Traum nie deuten können. Es war vollkommen klar. In diesem speziellen Augenblick verstand sie, dass diese Tür ein Symbol dafür war, was ihr daheim immer gefehlt hatte: Geborgenheit, Sicherheit und von den Eltern beschützt werden.

Heute schließt sich der Kreis. Die Tür ist bloß eine Tür, kein Symbol, sondern nur noch der Eingang in ihr Zuhause.

© Michaela May-Illichmann 2022-08-24

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