Die Warum-Frage

Ines Grimmlinger

von Ines Grimmlinger

Story

„Ich liebe ihn nicht mehr.“ Mit einer entschuldigenden Miene sah mich meine Mutter an und seufzte leise. Der Wind ließ ihre Haare tanzen und sie wischte sich die feinen Strähnen immer wieder aus dem Gesicht. Nun sah sie mich ernst an und es kam mir vor als wollte sie noch etwas sagen, aber sie tat es nicht. Ich saß einfach so da, rührte mich nicht und beobachtete ihr Verhalten. „Ich probiere es aber.“ fügte sie hinzu, schluckte kurz und wand ihr Gesicht ab. Ich folgte ihrem Blick, das Meer lag vor uns und durch das langsame Schaukeln war es eine angenehme Fahrt. In unserem Urlaub war nichts Besonderes vorgefallen. Wir waren essen, sind am Strand gelegen und haben diesen Ausflug zu einem schönen Wasserfall geplant. „Ich probiere es wirklich.“ versuchte sie mich zu beruhigen. Dachte ich jedenfalls, ich hatte immer noch nichts gesagt. Vielleicht verunsicherte sie das, also versuchte ich nur zu nicken aber sie bemerkte es nicht. Ihr Blick immer noch auf den Horizont gerichtet. „Ok.“ stieß ich leise heraus. „Es ist nicht so als ob ich ihn nie geliebt hätte.“, fügte sie hinzu. Sie richtet sich die Brille mit dem Zeigefinger und trank einen Schluck von ihrer Wasserflasche. „Ich werde mich auch nicht scheiden lassen. Du musst nur wissen, du stehst an erster Stelle. Ich schaffe das schon.“ Sie machte eine kurze Pause, ein Lächeln huschte auf ihre Lippen und sie sah verträumt den Wellen zu. „Ich muss sowieso jemanden vergessen. Du musst wissen, ich liebe diese Person seit meiner Jugend.“

Ich wusste immer noch nicht, warum sie mir dies erzählte, wir hatten vor ein paar Minuten noch über Alltägliches gesprochen und dann setzte sie eine ernste Miene auf. Ich verstand auch nicht, warum sie ausgerechnet mir sowas erzählt. Meine Kenntnisse zu Beziehungen waren gleich null. Wie auch, mit zwölf Jahren hatte ich gerade mal drei Schamhaare gezählt und mein erster Kuss war auch erst ein halbes Jahr später fällig. Die einzigen Dinge, die mich interessierten, waren meine Fantasy-Bücher, und mir so viele Filme hineinzuziehen, wie ich konnte. Ich hatte nämlich das Privileg, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, da ein Einzelkind war. Ich konnte mir alles aussuchen, was ich tun wollte, ohne Rücksicht zu nehmen oder zu streiten. Schlagfertig war ich nur durch meine schwächelnde Sozialkompetenz, aber jetzt, hier wusste ich nicht was ich sagen sollte. Diese Warum-Frage beschäftigte mich auch sehr. Ich hatte keine Ahnung, wie man eine Beziehung führt und was man dazu braucht. Erst ein Jahr später würde ich mich sorgen, keine Freunde zu haben, welche Sexualität ich habe und wen ich gerade süß fände. Aber hier und jetzt verstand ich das alles nicht. Ich wusste, dass meine Eltern sich stritten, dass sie sich manchmal anschrien. Aber dass sie ihn nicht mehr liebte und eine Scheidung im Raum stand, das war mir neu und ich konnte ihr auch nicht helfen. Wie auch, dachte ich. Aber sie erzählte es mir und diese Konversation würde sich in mein Gehirn einbrennen und immer wieder aufpoppen.

Ich entschloss mich dazu, sie aufzumuntern – jedenfalls versuchte ich es. „Ist schon gut. Ich verstehe das.“ Ich setzte ein Lächeln auf und blickte auf das Meer. „Genießen wir den Urlaub“, sagte ich und nickte entschlossen. Sie fing auch an zu lächeln und genau in diesem Moment kam mein Vater.

© Ines Grimmlinger 2023-08-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Reflektierend