Die weiße Frau von Rosenegg

Harald Klingler

von Harald Klingler

Story

Ich war eines Abends knapp vor dem Dunkelwerden hinter dem Schloss Rosenegg bei Bürs eben dabei, ein Bündel Holz, das ich gesammelt hatte, zusammenzubinden und nach Hause zu tragen. Da stand plötzlich ein Burgfräulein in schneeweiß leuchtendem Gewande vor mir, schaute mich freundlich an und sagte: „Büblein, lade dein Bündel noch einmal ab, du könntest mir einen großen Dienst erweisen. Jahrelang muss ich schon hier leben, du aber könntest mich heute erlösen! Du wärst gerade der richtige Mann dazu!“ Ich entgegnete: „Es ist schon recht spät. Das Abendläuten ist auch lange vorüber, und meine Mutter wartet zu Hause auf das Holz für die Küche. Darum muss ich jetzt schnell heimlaufen und ihr das Holz bringen. Aber nach dem Nachtmahl will ich noch auf einen Sprung heraufkommen.” „So geh jetzt”, meinte das Fräulein hierauf, „aber komm bestimmt wieder und vergiss nicht drei geweihte Ruten mitzunehmen!”

Als ich mein Abendbrot verspeist hatte, sprang ich rasch in die Oberstube, nahm drei geweihte Palmzweige und lief damit wieder zur Burg hinauf. Das Schlossfräulein kam mir schon entgegen, lächelte mich dankbar an und führte mich ins Schloss hinein. Tapfer ging ich hinter der hohen Gestalt einher, als es über eine steinerne Stiege zwölf oder fünfzehn Stufen tief in ein Gewölbe abwärts ging. Im hintersten Winkel des finsteren Kellers stand eine große eiserne Truhe, auf deren Deckel regungslos ein großer schwarzer Hund saß.

“Jetzt schau, lieber Knabe”, erklärte nun das Fräulein, ”diesem Hund musst du mit jeder deiner geweihten Rute einen Schlag geben. Nach dem dritten Streich wird der Hund von der Kiste herabspringen, ich werde dir von meinem Schlüsselbund den Schlüssel zur Truhe reichen, und du kannst die Truhe aufsperren. Der Schatz, der drinnen ist, gehört dir, und ich bin erlöst.”

Ich hörte aufmerksam zu und nickte verständnisvoll. Gleich nahm ich eine der Ruten und gab dem Hund einen Schlag. Da begann das Tier bösartig zu knurren, rollte seine Augen und schwoll zu unheimlicher Größe an. Obwohl mir graute, griff ich doch zu der zweiten Rute und schlug nochmals auf den Hund los. Aber nun wurde es noch ärger. Der Hund fletschte die Zähne und knurrte so laut, dass mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Die Augen des Tieres leuchteten wie Feuerräder, und sein Rücken wuchs bis zur Decke des Gewölbes an. Da war es um meine Tapferkeit geschehen. Mit der dritten Rute in der Hand stürmte ich weinend aus dem Schloss hinaus und wollte nur noch nach Hause.

Hinter mir aber kam das Burgfräulein aus dem Schloss heraus, rang jammernd die Hände und klagte: ,,Nun muss ich aufs neue hundert Jahre warten und hier leben, bis einer kommt, der mich erlöst!”

Lilly, 13 Jahre

© Harald Klingler 2023-02-08

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