von Sandra E. Mae
Alice nahm einen anderen Pfad zurück zum Wald, und kam an einem Strand vorbei, der aus vielen bunten Sandkörnern bestand. Jedes Korn hatte dieselbe Form und dieselbe Größe, und doch glich keins dem anderen. Sie glitzerten im Sonnenlicht wie Diamanten. Ungeschliffen. Schön.
„Was bist du denn für ein Fisch?”, fragte ein helles Stimmchen. Wie aus dem Nichts waren plötzlich zwei Jungs aufgetaucht, die sich optisch derart glichen, dass Alice kurz überlegte, ob sie etwa doppelt sah. „Ich bin kein Fisch”, sagte sie, während sie sich die Augen rieb, „ich bin Alice.” – „Interessant”, erwiderte der eine Junge. Oder war es der andere? „Eine Alice wie dich hatten wir hier noch nie.” – „Eine Alice wie mich?”, fragte sie und musterte die beiden. Beide Jungen trugen eine Latzhose aus Jeansstoff und darunter ein T-Shirt. Erst bei näherem Hinsehen fiel Alice auf, dass auf dem einen Shirt dunkle Flecken in Purpur zu erkennen waren. „Ja”, gaben die Jungs gleichzeitig zurück, „es gibt viele Alices, und doch jede Alice nur einmal.” – „Weil wir alle verschieden sind”, nickte Alice. „Zum einen”, sagte der eine Bursche, „aber zum anderen übernehmen wir vieles von anderen.” Er stieß seinem Zwilling – zumindest nahm Alice an, dass er das war – den Ellenbogen in die Seite. „Mein Bruder zum Beispiel”, fuhr er fort, „hat mein Gesicht genommen, weil er seines verloren hat.” – „Und mein Bruder”, entgegnete der andere – es war der mit dem fleckigen Shirt, wie Alice bemerkte -, „hat mir seines gezeigt, nachdem ich ihm das meine gezeigt hab. Es war also ein Geben und Nehmen und ein Nehmen und Geben.” – „Und wie heißt ihr beiden?”, fragte Alice. „Ich bin Gut”, sagte der eine Zwilling. „Ich bin Schlecht”, sagte der andere.
„Gut tut nur Gutes. Er hilft dort, wo es nötig ist, und auch da, wo es nicht nötig ist. Er ist ehrlich und freundlich.” – „Und Schlecht tut nur Schlechtes”, fügte der andere Bruder hinzu, „er tut anderen weh, seelisch und körperlich, und er lügt und stiehlt und schlägt.” – „Hat er deshalb Flecken auf seinem Shirt?”, fragte Alice. „Ist das Blut?” – „Vielleicht”, sagte der Junge. „Aber wenn der eine nur Gutes und der andere nur Schlechtes tun will”, meinte Alice, „streitet ihr euch da nicht?” Beide schüttelten die Köpfe. „Nein”, sagte Gut, „ohne meinen Bruder gäbe es mich gar nicht. Ohne Schlecht wüsste ich nicht, was gut ist.” – „Nein”, sagte Schlecht, „ohne meinen Bruder gäbe es mich gar nicht. Ohne Gut wüsste ich nicht, was schlecht ist.” – „Hm”, sagte Alice. „Und wenn ihr beide nicht existieren würdet? Gäbe es dann weder Gut noch Schlecht?” – „Vielleicht”, antworteten die Zwillinge im Chor. So schnell sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden.
Alice hatte nur kurz geblinzelt, und weg waren sie. Wie vom Sand verschluckt. Noch einmal rieb sich Alice die Augen. Möglicherweise waren Gut und Schlecht lediglich eine von ihrem Geist erschaffene Illusion. Alice überlegte, und ihre Augen glitzerten dabei wie schöne ungeschliffene Diamanten.
© Sandra E. Mae 2022-03-17