Dienstboten-Muttergottes

Walter Weinberg

von Walter Weinberg

Story
wien 1280 – 1800

An der Nordwand des Doms befindet sich der Orgelfuß, eigentlich eine OrgelbĂŒhne, auf der nie eine Orgel platziert wurde. Das steinerne Kunstwerk, das Anton Pilgram erschuf, erinnert eher an einen Balkon. Unter dem reich verzierten gotischen Orgelfuß hat sich der bereits an der Kanzel dargestellte Steinmetzmeister Pilgram abermals selbst verewigt. Die originale Bemalung dieser Pilgram Figur, die sich aus einem Fenster lehnt, ist vollstĂ€ndig erhalten. Um das plastische Bildnis zeigt sich ein im Originalzustand erhaltenes schlangenförmiges Ornament, das die Jahreszahl der Fertigstellung des Orgelfußes zeigt: 1513. Die Torhalle, die ebenfalls Anton Pilgram als Eingangsbereich des Riesentores erschuf, wurde im selben Jahr vollendet. Allerdings wurde die BautĂ€tigkeit des Meisters am Nordturm gleichzeitig eingestellt und endgĂŒltig aufgegeben. Kurz darauf, im Jahr 1515, ist der aus BrĂŒnn stammende Pilgram in Wien verstorben. Auch in seiner Heimatstadt hinterließ der KĂŒnstler bemerkenswerte Steinmetzarbeiten wie das kuriose Portal des Alten Rathauses mit der verdrehten Fiale. Weil Pilgram vor der Fertigstellung des Portals keine finanziellen Mittel von der Stadt BrĂŒnn erhielt, erlaubte er sich, seinen Ärger durch seine Kunst auszudrĂŒcken und schuf die markante verdrehte Fiale, die heute als Wahrzeichen von BrĂŒnn gilt! Am Weg zum Friedrichsgrab durch das Hauptschiff entdeckt man an einem Pfeiler die lebensnahe Darstellung der Muttergottes mit Jesuskind auf dem Arm. Die lebendige Szene zeigt, wie das Jesuskind fasziniert die Brosche in Rosenform am Gewand seiner Mutter berĂŒhrt. Die Jungfrau blickt wohlwollend und lieblich auf das HĂ€ndchen, das nach der Rose greift. Die um 1280 geschaffene gotische Skulptur aus Sandstein zĂ€hlt zu den beeindruckendsten Kunstwerken ihrer Zeit und war frĂŒher bunt bemalt, wodurch sie besonders lebendig wirkte! Die Dienstbotenmuttergottes, eine der Ă€ltesten Skulpturen des Doms, zog und zieht noch heute die GlĂ€ubigen regelrecht an sich und ist eine der meistbesuchten AndachtsstĂ€tten im Dom. Die Marienstatue stand ursprĂŒnglich im Besitz der reichen GrĂ€fin Gertrude von Ramshorns, die fromm im Gebet aber hart und ungerecht zu ihren Dienstboten war! Als eines Tages eine kostbare Perlenkette aus der Schmuckschatulle der GrĂ€fin fehlte, beschuldigte sie ihre persönliche Zofe des Diebstahls, obwohl sich das fromme MĂ€dchen noch nie etwas zu Schulden kommen ließ. Zur Schmuckschatulle der GrĂ€fin hatte aber nur die persönliche Zofe, die eindringlich ihre Unschuld beschwor, Zutritt, weshalb die GrĂ€fin ohne zu zögern die Polizei verstĂ€ndigte! In ihrer Verzweiflung flĂŒchtete die Zofe zum Hausaltar der GrĂ€fin und betete in Todesangst um Hilfe zur Muttergottesstatue. “Die Gottesmutter ist fĂŒr mich gemacht”, spottete die GrĂ€fin, “und kĂŒmmert sich nicht um arme Dienstboten!“ Die Zofe hoffte dennoch, dass die Mutter Jesu auch fĂŒr Dienstboten ein Ohr hatte und flehte weinend um Errettung und Gerechtigkeit! Der Polizeileutnant zögerte die Magd zu verhaften und verlangte, die Habseligkeiten der gesamten Dienerschaft zu untersuchen. Plötzlich entdeckte er die Perlen im Koffer des Reitknechts, eines besonderen Lieblings der GrĂ€fin, der den Diebstahl gestand. Die GrĂ€fin schenkte als Wiedergutmachung ihrer Ungerechtigkeit gegenĂŒber der fĂ€lschlicherweise des Diebstahls bezichtigten Zofe die Marien- und Jesuskind-Figur dem Stephansdom. Seitdem verrichteten in frĂŒheren Zeiten vor allem die Dienstboten mit Vorliebe ihre Gebete davor und suchten Zuflucht, wenn sie ungerechten Bestrafungen ausgesetzt waren!

© Walter Weinberg 2024-08-29

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Traurig, Angespannt
Hashtags