Dröppelig 2.0

majastätisch

von majastätisch

Story

Manchmal wünschte ich mir einfach jemanden, der genauer hinsah und vielleicht erkannte, dass sich die Welt gerade ohne mich weiterdrehte und ich festhing; irgendwo an einem Ort, an dem ich nicht die Person war, die ich gerade war. Irgendwo, irgendein Paralleluniversum, in dem ich nicht am 27. November durch nässende Kälte lief, und so tat, als wäre es das normalste der Welt und gleichzeitig das schlimmste Ereignis des Jahres. Vielleicht auch ein Ort, an dem mich noch irgendwas hielt und wo ich nicht ständig auf der Schwelle zwischen Jenseits und Realität stand.
Das Eingangstor wirkte wie ein riesiges, monströses Etwas, dem man normalerweise eher nicht über den Weg laufen wollte.
Ich sagte mir oft selbst, dass ich bestimmt häufiger herkommen würde, wäre das Tor einladender.
Keine solchen Spitzen, die aussahen, als könnte man damit problemlos jemanden umbringen und keine solch imaginären, dunklen Wolken, die sich um das rostige Eisen herumzogen. Ich straffte meine Schultern und machte einen Schritt auf das Tor zu.
Und ich war mir ziemlich sicher, dass sich keine Dämonen in meine Seele gepflanzt hatten, während ich unter dem Bogen hindurchlief.
Zumindest keine, die nicht schon vorher da gewesen waren. Ich lief schnurstracks den schmalen Weg hinunter, der mich zum richtigen Platz führte.
Ich versuchte, die vielen Blumen, die wie bunte Kleckse im Grau vereinzelt neben dem Weg lagen, und die flackernden, schon halb abgebrannten Kerzen, so gut es ging, nicht wahrzunehmen. Es war ein trauriger Ort, der mir auch nach all den Jahren nie vertraut geworden war und dies auch wahrscheinlich niemals werden würde. Er ist nicht dazu da, sich auf ihm vertraut zu fühlen.
Auch, als ich am Grab ankam, fühlte ich nichts als eine Leere, den Schmerz und gleichzeitig diese Wut. Ich starrte auf den Grabstein und las die Inschriften, die ich in- und auswendig kannte. Ich wollte diesen Namen nicht kennen und ich wollte auch nicht diese hässliche 27 hinter dem Kreuz sehen, die dort dicht gefolgt von der elf stand und aussah, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ich sagte ja, die 27 war keine schöne Zahl, aber in Verbindung mit der elf, war sie wortwörtlich ein Todesurteil.
Ich setzte mich auf die schmale, verdammt morsche und bemooste, alte Holzbank, die vor dem Grab stand, als wäre sie extra dafür errichtet worden, mich an diesem Tag im Jahr zu halten. Dieser eine Tag, an dem ich es nicht schaffte, mich alleine zu halten und mich selber wieder auf die Beine zu ziehen, sondern an dem mich eine verdammte Bank hielt. Nicht mal ein Mensch, sondern eine Bank, die so alt war, dass sie bei der kleinsten Bewegung womöglich in sich zusammenkrachte. Aber für den Moment hielt sie meinem Gewicht stand. Und das machte die Bank so besonders; dass sie es schaffte, das Gewicht von mir und meinen verdammten Gefühlen zu halten, was kein anderer außer ihr je geschafft hatte.
Ich spürte einen zaghaften Regentropfen, der auf meine Nasenspitze fiel und dann, mit einem Mal, ergoss sich der gesamte Himmel in feinen Bindfäden über mich und die Bank.
Es dröppelte…


 


© majastätisch 2023-07-17

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Hoffnungsvoll, Mysteriös, Traurig
Hashtags