Gestern Abend haben zwei junge Damen, Studentinnen mit Migrationshintergrund, auf der Treppe vor dem Kunstraum eine Geldbörse mit 3.000 Euro (in Worten: dreitausend) gefunden. Und umgehend bei der Polizei abgegeben. So sind unsere neuen Österreicherinnen: vorbildlich ehrlich!
Wäre ich noch Mitglied der katholischen Kirche würde ich wohl sagen: „Danke, lieber Gott, dass du nicht mich dieser Prüfung unterzogen hast!“ Da ich aber den Katholen den Rücken zugewandt habe, jedoch immer noch ein bekennender Moralist bin, muss ich mich hier der Frage stellen: was hätte ich in dem Fall getan? Und ich muss euch beichten: ich wäre damit nicht sofort zur Polizei marschiert!
Der Vollständigkeit halber ist hier zu ergänzen: außer Geld und Brieftasche gab es bei diesem Fund keine Karten, weder Visit- noch Kreditkarten, die eine eindeutige Zuordnung zu einem Eigentümer ermöglicht hätten. Als Pragmatiker hätte ich mich gefragt: wer verliert versehentlich 3.000 Euro? Ein Sandler, dem das Börsl durch seine löchrigen Sakko-Taschen gefallen ist? Oder einer, der so nebenbei mal 3.000 Euro für eine kleine Schweinerei verjubelt – vielleicht 200 Meter weiter im Casino in der Kärntnerstraße? (Andere Etablissements in der näheren Umgebung fallen mir gerade nicht ein.)
Also ich sag es gerade heraus: nach reiflicher Überlegung hätte ich das Geld eingesteckt.
Wäre dieses Verhalten vereinbar mit dem kategorischen Imperativ, der für mich die höchste moralische Instanz darstellt? Handle stets nach derjenigen Maxime von der du wollen kannst, dass sie zu einem allgemeinen Gesetze werde! Könnte ich wollen, dass mein Handeln (nämlich einen Fund einfach einzusacken) zu einem allgemeinen Gesetze werde? Schlimm wäre es bestellt um unsere Moral!
Trotzdem hätte ich es getan und folgendes gemacht: Ich hätte die 3.000 Euro behalten und drei KünstlerInnen, die dringend Geld benötigen – da brauch ich nicht lange zu suchen – um jeweils 1.000 Euro ein Bild abgekauft. Ja, ehrlich gesagt, so ein Schlitzohr bin ich! Nicht einmal geschenkt hätte ich ihnen das Geld, sondern auch noch einen persönlichen Vorteil raus geschlagen.
Nun bleibt das für mich zwar nur ein hypothetischer Fall, aber die moralische Verantwortung für die Entscheidung, die ich getroffen hätte, bleibt die gleiche. Ich halte es tatsächlich für moralisch vertretbar, 3.000 anonyme Euro (das ist der springende Punkt: der Fund kann nicht eindeutig, ja sogar eindeutig nicht einer Person legitimer Weise zugeschrieben werden) einzustecken um damit etwas Gutes zu tun.
Schade also, dass es nur ein Gedankenexperiment geblieben ist. Aber wäre ich tatsächlich der glückliche Finder gewesen, ich hätte euch nichts davon erzählt. Ehrlich nicht!
© Hubert Thurnhofer 2024-01-14