Ein Abschiedsbrief

Nea Ransen

von Nea Ransen

Story

Was bleibt denen, die bleiben? Ich habe dich geliebt – beinahe – und es dir nie gesagt. Zum Abschied will ich dir sagen, was du immer hören wolltest: Du bedeutest.

Ich sehe dich am ersten schönen Tag im Herbst auf einer Bank sitzen. Du bist so sehr in ein Buch vertieft, dass die Welt um dich herum einfach nicht mehr existiert. Wie einen Schatz behüten deine großen Hände dieses winzige Buch, der Schlüssel zu anderen Welten. Der Wind rauscht durch die Herbstbäume, sodass die Bank und alles um dich herum im goldgelben Blättermeer ertrinken. Und du merkst es nicht. Sitzt einfach nur da und liest, seelenruhig. Als wärst nicht einmal mehr du da, bist du irgendwo in mir unergründlichen Welten unterwegs. Wie es dort wohl aussieht? Du selbst bewegst dich keinen Zentimeter und doch herrscht gerade Hochbetrieb in diesem gelockten Kopf. Dabei strahlst du diese Ruhe aus, nach der ich mich so sehr sehne. Ich wünschte, meine Zuneigung wäre Klebstoff, die dich an diese Bank haften könnte, damit du bliebst. Doch der Wind trägt deine Gedanken in der Blätterflut davon und der einsetzende Herbstregen spült dich vollends weg. Du – unerreichbar. Du hast es geschafft, mich zu berühren.

 Du stehst vor dem Spiegel. In deiner Hand eine Tube Gel. Tonnenweise klatschst du dir von dem Zeug auf die Haare. Dabei schmunzelst du und rufst streng: „Ordnung auf meinem Kopf!“ Ich liebe dein Morgenritual. Wie du mir erklärst, dass Ordnung in deinem Haar auch Ordnung in deinem Kopf bedeutet, und zu einem endlosen Vortrag über Haarpflegeprodukte und Poeten ansetzt, erinnerst du mich an ein Kindergartenkind, das erwachsen spielt und beweisen will, was es schon alles weiß. Der Kopf eines Gelehrten muss gepflegt sein wie sein Inneres. Ich höre dir nicht mehr zu. Denn ich will diesen Moment bitte zu kleinen Eiswürfeln einfrieren können und mir irgendwann mal haareraufende Miniatur-Dus in den Drink kippen und jede erdenkliche Version deiner Eiswürfselbst wieder retten. Weil es sich wahrscheinlich so anfühlt, am Leben teilzunehmen. Sich über belanglose Kleinigkeiten zu freuen und einfach da zu sein. Keine Kopfschmerzen zu bekommen, weil man, wie meistens, einfach nur aneinander vorbeiredet. Denn das ist unausgesprochenes Gesetz, wir verstehen uns schon. Nur das Genie, für den Betrachter an der optischen Grenze zum Wahnsinn, darf irre Locken tragen wie du, fährst du fort. Immer wieder überprüfst du meine Reaktion. Auch wenn es mir schwerfällt, ernst zu bleiben, wenn du gerade wieder dabei bist, dir so einen Quatsch auszudenken, spiele ich mit. Zwar hast du keine Ahnung, wer du bist, aber umso mehr davon, wer du gerne wärst. In jeder Sekunde jemand anderes. Es ist nicht leicht, da mitzuhalten, aber ich renne dir mit meinem Spiegel hinterher, um dir zu zeigen, was du sehen willst. So schnell ich kann. Heute schmücken wir uns mit ironischer Distanz zum Geschehen, was uns leicht erhaben erscheinen lässt. Die Eitelkeit steht dir. Neue Frisur, neues Ich! Es könnte so einfach sein, deine Unsicherheiten hinter den ausgedachten Ticks und maßlosen Übertreibungen zu verstecken. Deshalb war es meine Aufgabe, immer so zu tun als würde ich dich ernst nehmen, um dir einen Halt zu geben. Du hast es geschafft, mich zum Lachen zu bringen. 

© Nea Ransen 2024-01-02

Genres
Romane & Erzählungen