Ein Brief an meinen Bruder

Valerie-Monique Saul

von Valerie-Monique Saul

Story

Du und ich. Jede/r weiß, dass wir zwei diejenigen sind, zwischen denen die größten Welten liegen. Du, der den Konflikten aus dem Weg geht, ein Schlichter, einer, der klein beigibt. Ich, der Freigeist. Eine, die die Klappe nie halten kann. Etwas, was du stets angekreidet hast. Zwei Welten, die aufeinanderprallen. Immer und immer wieder. Wir sind fünf Geschwister und alle über 30. Im letzten Herbst philosophierte ich mit einem Freund darüber, dass wir realistisch sein müssten. Statistisch gesehen müsste früher oder später eine/r von uns damit rechnen, nicht mehr gesund zu sein. That’s life. Ich wünschte heute, ich hätte das nicht beschrien. Einmal wirklich meine Klappe gehalten. Es ist der 18. April um 17.50 Uhr als du mir eine Nachricht schickst. Eine, die mich überrollt. Ich wusste, dass du im Vorjahr einige Schwierigkeiten hattest. Zu sehen, die richtigen Worte zu finden, den Halt zu wahren, fröhlich zu sein. Aber alles halb so wild. Jetzt schreibst du mir, die Ärzte haben einen schwarzen Fleck gefunden. „Etwas, was dort nicht sein sollte.“ In deinem Kopf hat es sich ein Tumor gemütlich gemacht, der es nicht einsieht, von dort zu verschwinden.

Ich reagiere auf diese Nachricht gewohnt gefasst und schreibe dir, dass alles gut werden wird. Dass ich froh sei, dass man nun endlich wisse, was Sache ist. Als ich mein Telefon zur Seite lege, bin ich wie gelähmt. Ich weine. Ich weine so sehr, dass ich nicht aufhören kann. Ich möchte schreien und das tue ich, wenn auch nur ganz leise. Du warst derjenige, der mir als kleines Mädchen immer wieder gesagt hat, dass es sich nicht lohnt zu heulen. Das hat sich so sehr in mich hineingebrannt. Ich heule nie. Wegen dir. Und jetzt kann ich nicht mehr aufhören. Wegen dir.

Kurz vor meinem Geburtstag findet die Operation statt, in der sie versuchen, den „Bastardo“, wie du ihn getauft hast, zu entfernen. Du wirst alleine auf dem Krankenhausbett liegen. Wegen diesem blöden Virus. Ohne deine zwei kleinen zauberhaften Söhne und deine Verlobte, die deine Hand halten könnten. Einige Tage später kommen mich dann unsere Eltern in München besuchen. Ich erkläre ihnen, wie froh ich über die gut verlaufene Operation bin. Mir rutscht mein törichtes Herz in die Hose, als ich in diesem Augenblick in das Gesicht unserer Mutter sehe. Ich weiß ganz genau, welches Band dieses vertraute Gesicht spricht.

Es sind bereits Wochen vergangen. Die Chemo läuft, die Bestrahlung läuft, dein Sohn wird bald das Laufen anfangen. Du hast es bereits bis zu deinem 35. Geburtstag geschafft. Wir Geschwister schenken dir eine Reise. Eine Überraschung. Etwas, das wir noch nie gemacht haben. Nur wir fünf, ganz nah. Ich möchte dir für diese Reise einen Brief schreiben. Einen, in dem ich mich erkläre. Dass ich mir wünsche, dass du auch mal nur an dich denkst. Nicht daran, was den anderen gefallen könnte. Dass man auch von seiner kleinen Schwester lernen kann. Zum Beispiel, dass es vollkommen okay ist, auch mal Schabernack zu machen. Dass es mein größter Wunsch ist, dass du endlich anfängst zu leben. Dass ich die Hoffnung habe, dass du weißt, wie ich für dich fühle. Dass du weißt, was du für mich bist, Bruderherz. Dass du, wie die anderen drei, alles für mich bist. Trotz der Welten, die zwischen uns liegen.

© Valerie-Monique Saul 2024-10-10

Genres
Anthologien
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll