Ein Engel auf Samoa

Nina Waldkirch

von Nina Waldkirch

Story

Bei der Weltreise von 1993 hatten meine Eltern und ich drei Tage Zwischenstopp auf der Insel Upolu in West-Samoa. Um in der kurzen Zeit möglichst viel sehen zu können, mietete mein Vater einen Jeep Wrangler und fuhr mit uns die Insel ab. Dabei drangen wir immer tiefer in die Ursprünglichkeit des Landes ein.

Zunächst fuhren wir auf einer asphaltierten Straße durch die Berge, deren Hänge sich wie grüne Lava von den nebelverhangenen Spitzen bis hinab ins Tal zogen. Bald wurde daraus ein Schotterweg, der uns kräftig durchrüttelte. Schließlich führte uns nur noch ein Waldweg durch das wilde, von Regenwald bedeckte Landesinnere. Streckenweise ging es neben uns viele Meter steil bergab. In der Ferne gab uns das Meer Halt und Orientierung im dichten Palmenwald. Nach dem Überqueren eines kleinen Gebirgspasses ging es wieder abwärts. Das nicht weit entfernte Toben eines Wasserfalls und das noch nähere Rauschen eines Flusses kündigten schließlich abermals den Ozean an. Nachdem wir den Fluss über eine unbefestigte Brücke überquert hatten, stießen wir am anderen Ende der Insel auf ein Dorf – sofern man drei Häuser und eine Kirche als Dorf bezeichnen kann.

Wir hielten an. Das Bellen wilder Hunde verriet unsere Ankunft. Neugierig streckten die Anwohner die Köpfe aus ihren Fale – den traditionellen samoanischen Häusern, die weder Fenster noch Türen besitzen. Die Kinder kamen ohne Scheu auf unser Auto zugestürmt. Und sie schienen ein konkretes Ziel zu haben: mich! Plötzlich griffen von allen Seiten kleine Hände nach meinen Haaren, streichelten mir über den Kopf und gaben dabei bewundernde Laute von sich. Ich war von dem kleinen Überfall etwas überfordert und warf meinem Vater einen unsicheren Blick zu. Einige Männer in weißen Röcken kamen auf uns zu. Einer von ihnen beherrschte ein paar Brocken Englisch. Er deutete auf mich und sagte: »Angel«. Offenbar waren meine damals ellenlangen, dunkelblonden Haare der Grund für ihre Verehrung. Blonde Haare hatten die allesamt dunkelhaarigen Kinder noch nie in ihrem Leben gesehen und waren ihnen nur aus Erzählungen über Engel bekannt. Daher dachten sie, ich wäre ein Engel, der sie besucht, und es Glück bringt, wenn sie mein güldenes Haar berühren. Mein Vater erklärte mir, was es mit der Faszination der Kinder für mich auf sich hat. Als ich begriff, dass mir niemand etwas Böses wollte, ließ ich sie gewähren und fühlte ich mich sogar geehrt.

Als wir am Ende des Tages zurück in unser Hotel fuhren, hatte ich das Gefühl, in meiner Rolle als Engel Freude und Glück in das Leben dieser Kinder gebracht zu haben. Und ist das nicht die Aufgabe eines Engels?

© Nina Waldkirch 2021-04-05

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