Ein Fisch im Teich

Ivonne Wolfgramm

von Ivonne Wolfgramm

Story

Als ich am Morgen aufwachte und aus dem Fenster blickte, konnte ich das Landleben in seiner vollsten Reinheit sehen. Der Nebel hing noch in der Luft, durch den die ersten Sonnenstrahlen brachen und sich über den grünen Weiden ausbreiten. Irgendwo aus der Ferne hörte ich das Rattern eines Treckers. Das Geräusch vermischte sich mit den Rufen der Schafherde, die auf der anderen Seite der Straße am Weiden war. Es war einer dieser ruhigen Morgen am Rande der Stadt, wo das Leben langsamer zu sein schien und die Zeit ihren eigenen Rhythmus hatte. Und mir gefiel es. Sehr sogar. Ich ging in die Küche, machte mir einen Kaffee und setzte mich an den Küchentisch. Mein morgendliches Ritual, bei dem ich noch meine Gedanken ein bisschen schweifen lassen konnte.

Seit meinem Studium hatte ich immer davon geträumt, große Geschichten zu erzählen. Journalistin zu sein, war schon immer mein Traumberuf gewesen. Geschichten, die die Menschen bewegen und Veränderungen herbeiführen. Geschichten, die wirklich etwas bewegen konnte. Doch nun saß ich hier. Seit drei Jahren war ich Redakteurin für die Nordwest-Rundschau, einer kleinen, regionalen Tageszeitung, die sich meist mehr für Dorffeste und Gemeinderatssitzungen interessierte als für wirkliche Enthüllungen. Frustrierend. Es war nicht so, dass ich meinen Job nicht mochte. Ganz im Gegenteil. Ich schätze die Nähe zur Gemeinschaft und die Möglichkeit, die Geschichten der Menschen aus der Region zu erzählen. Aber manchmal fühlte es sich an, als würde ich in einem Teich voller kleiner Fische schwimmen, während ich vom großen Ozean träumte. Die großen Storys schienen immer aus Reichweite zu sein, und meine Ambitionen wurden von den begrenzten Ressourcen unseres Verlages gebremst. Und so wie es aussah, schien es sich auch nicht jemals zu ändern.

Mir war gar nicht bewusst, wie lange ich meinen Gedanken nachgehangen habe. Ich blickte auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass ich bereits eine Viertelstunde hinter meiner Routine war. Schnell trank ich meinen Kaffee aus, der inzwischen nur noch lauwarm war. Ich ging hastig ins Schlafzimmer und suchte mir ein bestes Outfit raus – einen dunkelblauen Blazer und eine dazu passende Hose. Ich wollte professionell wirken. Bereit, die Gelegenheit zu ergreifen, die sich bot. Während ich mich bereit für den Tag machte, ging ich im Kopf noch einmal die Liste der Redner durch, die ich gestern Abend recherchiert hatte. Unter ihnen war auch Dr. Elias Richter, ein Wissenschaftler, der an der Universität forschte und einen Vortrag über die ethischen Aspekte der Quantenphysik halten sollte.

Mein Chefredakteur hatte mich dazu verdonnert, als Journalistin an dem Symposium teilzunehmen. Für unsere Region sei es von großer Bedeutung. Dabei hatte ich doch so wenig Ahnung von Physik. Es war nie mein Lieblingsfach in der Schule. Jahr für Jahr hatte ich gerade so – mit Ach und Krach – eine Vier im Zeugnis erzielen können. Das war aber auch das Schöne an meinen Beruf. Manchmal muss ich über meinen Schatten springen, mich mit Themen auseinandersetzen, die mir so gar nicht lagen. Und so manches Mal musste ich dann doch feststellen: So langweilig wie gedacht, war es dann doch nicht.

© Ivonne Wolfgramm 2024-07-16

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend
Hashtags
Erzählung, Journalismus