von Joe_Maxime
Kein „Hi“, kein „Guten Morgen“. Keine Frage nach meinem Befinden. Stattdessen erhalte ich von meinem Vater, den ich liebevoll Sheldon nenne, direkt einen Link per WhatsApp. Einfach so, ohne Kommentar. Zack, bumm, hier ist der Link, die Botschaft ist klar: Schau dir das an.
Smalltalk ist überbewertet, zumindest in Sheldons Welt. Seine Nachrichten sind ein Gemisch aus Artikeln, die ich unbedingt lesen sollte, Erinnerungen an wichtige Termine oder Hinweise auf Änderungen in der Gesetzgebung. Manchmal informiert er mich auch einfach nur darüber, dass ein Paket ankommt, das ich für ihn annehmen soll. Alles ohne irgendein Einleitungs- oder Schlusswort.
Es gibt Tage, da fühle ich mich wie ein Geschäftspartner und nicht wie seine Tochter. Seine Texte sind so förmlich, als würde er mit seinem Anwalt oder Vorgesetzten kommunizieren. „Sehr geehrte Tochter“ fehlt eigentlich nur noch. Manchmal frage ich mich: „Hallo, ich bin dein Kind. Du musst mich nicht so förmlich anschreiben und gefühlt verklagen!“
Dann gibt es wieder diese kuriosen Nachrichten, die ich mir immer wieder anschaue und darüber lache. Ein Witz, ohne Einleitung und ohne Kommentar, einfach so in den Raum geworfen. Oder kürzlich schickte er mir einen Screenshot der Wetter-App, als ich in Salzburg war. „Es gewittert bei dir“, war die ungesagte Botschaft. Ich schaue aus dem Fenster und denke: „Ach was!“
Diese Art der Kommunikation ist Sheldons persönliche Liebessprache. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Er zeigt mir seine Zuneigung durch Wissen. Indem er mir Artikel sendet, möchte er mir helfen. Er denkt an mich und will, dass ich gut informiert bin und Probleme lösen kann. Aber verbal ausdrücken? Fehlanzeige.
Manchmal wünsche ich mir eine einfache Nachricht wie „Guten Morgen“ oder „Wie geht’s?“. Aber ich weiß jetzt, dass das nicht seine Art ist. Stattdessen schickt er mir einen Artikel über die neuesten Entwicklungen in der Gesetzesgebung oder einen Tipp zur Optimierung meiner Steuererklärung. Das ist seine Art zu sagen: „Ich liebe dich und ich denke an dich.“
Ich habe gelernt, diese Kommunikation mit Sheldon zu schätzen. Seine Links und Nachrichten sind wie kleine Fenster in sein komplexes, faszinierendes Gehirn. Sie zeigen mir, dass er sich sorgt und dass er mich auf seine eigene, einzigartige Weise liebt. In seiner Welt ist jede Nachricht, so förmlich und unpersönlich sie auch erscheinen mag, ein Ausdruck dieser Liebe.
Wenn ich also wieder einmal einen Link ohne Kommentar erhalte, lächle ich. Denn ich weiß jetzt, was dahinter steckt: Eine ganze Menge Zuneigung und Fürsorge. Und das macht jeden „ganz normalen“ WhatsApp-Chat mit meinem Vater zu etwas Besonderem.
© Joe_Maxime 2024-07-30