Ein Moment fĂĽr die Ewigkeit.

Roland Hummer

von Roland Hummer

Story
Suriname

Das Bild, das sich mir bot, hatte ich tausendmal in meinem Kopf durchgespielt – und doch war die Wirklichkeit intensiver, lebendiger, beinahe unwirklich. Da lag sie, die Anakonda, im fahlen Licht meiner Stirnlampe. Ihre Muster und Merkmale, die ich so akribisch studiert hatte, waren mir sofort vertraut: die olivgrüne Haut, die schwarzen Flecken wie eine Landkarte und die gelben Augenflecken, die ihr ein geheimnisvolles Aussehen verliehen. Seltsam ruhig blieb ich in diesem Moment, nicht erschrocken, nicht überrascht. Es war, als hätte ich mich auf diese Begegnung vorbereitet, als wäre sie der unvermeidliche Höhepunkt einer Reise, die ich schon so oft in Gedanken durchlebt hatte.

Sie lag in einem kleinen felsigen Tümpel, den der Fluss speiste. Ein Jungtier, schätzte ich, nicht mehr als 160 Zentimeter lang. Zunächst waren es nur ihre Augen und Nasenlöcher, die knapp über der Wasseroberfläche schwebten, ein leises, fast unmerkliches Signal ihrer Anwesenheit. Doch das Licht meiner Stirnlampe enthüllte nach und nach ihren ganzen Körper, eine lebende Skulptur aus Kraft und Eleganz. Die Freude des Entdeckers durchflutete mich – diese Mischung aus Ehrfurcht und triumphalem Staunen, die jede Anstrengung der letzten Tage plötzlich lohnenswert machte. Die Minuten vergingen wie in Zeitlupe, bevor ich Matthew über Funk verständigte. Als er schließlich den Fluss durchquerte, konnte ich sein breites Grinsen selbst im schwachen Licht erkennen. Matthew war seit seiner Kindheit von Schlangen fasziniert, und seine Leidenschaft hatte ihn schließlich dazu gebracht, Zoologe zu werden.

Während Matthew begann, seine Expertise über diese faszinierende Art mit mir zu teilen, wagte ich mich langsam näher. Das Wasser war klar, nur durch abgestorbene Blätter leicht getrübt, und die Anakonda lag ruhig da, in kräftigen Schlingen gewunden wie ein kunstvoll arrangiertes Seil. Der Moment brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. Anakondas, erklärte Matthew, sind Würgeschlangen, keine Giftschlangen. Ihre tödliche Umarmung ist ein Meisterwerk evolutionärer Anpassung. Wenn sie zupackt, brachte sie die Atmung und den Blutkreislauf ihrer Beute zum Erliegen, denn bei jedem Ausatmen ihres Opfers zog sie ihre Umklammerung enger, bis das Leben erlosch. Diese Details waren mir bekannt, doch jetzt, wo ich einer Anakonda gegenüberstand, spürte ich die rohe Kraft dieser Realität mit jeder Faser meines Körpers.

Ich hatte mich in den letzten Tagen an kleineren Schlangen geübt, sie zu fangen, um mich auf diesen Moment vorzubereiten. Meine Hand zitterte leicht, als ich mich auf den entscheidenden Augenblick konzentrierte. Noch nie war ich einem so reinen Ausdruck von Naturgewalt so nahegekommen. Langsam, behutsam näherte ich mich. Mein Herz raste, und doch fühlte ich mich merkwürdig klar, fokussiert.



© Roland Hummer 2025-03-20

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Adventurous, Challenging, Emotional, Informativ
Hashtags