Ich halte ein altes Foto in meinen Händen und bin seltsam schmerzlich berührt. Es ist vergilbt und zeigt deutliche Spuren der Zeit. Die Menschen, die darauf abgebildet sind, leben nicht mehr. Es ist ihr Hochzeitsbild. In festlicher Kleidung, dem Anlass entsprechend, in einem Fotoinstitut in Pose gestellt. Die Frau hält sich am Mann fest, als suche sie Schutz und Geborgenheit.
Ich weiß nicht viel über diese beiden Menschen. Haben sie an einem schönen Frühlingstag geheiratet oder in der Hitze des Sommers? Könnte es auch ein nebelverhangener Novembertag gewesen sein? Ich weiß es nicht. Auch nicht, wie sie sich kennengelernt haben. Die Frau ist meine Großtante mütterlicherseits, eine von drei Schwestern, die in einem kleinen Dorf im Burgenland in ärmlichen, beengten Verhältnissen aufgewachsen sind.
Zwecks Arbeitssuche hat es sie nach Wien verschlagen. Dort muss sie ihrem späteren Ehemann begegnet sein. Gelebt haben sie in einer kleinen Zimmer-Küche-Wohnung mit Wasser und Toilette auf dem Gang. Damals eine weit verbreitete Wohnform unter einkommensschwachen Menschen. Der Mann Apothekergehilfe, die Frau Hausfrau.
Sie habe in der Küche während der Hausarbeit ständig Bücher gelesen, wurde über sie gesagt. Der Mann habe sein Vergnügen lieber auswärts gesucht und es mit der Treue auch nicht so ernst genommen. Von Frauengeschichten wurde gesprochen. Die Ehefrau mit zwei kleinen Kindern alleine zu Hause gelassen. Keine glückliche Ehe.
Die Frau konzentrierte sich auf ihre Mutterrolle. Da gab es eine Tochter und einen Sohn. In diese jungen Leben investierte sie ihre Kraft, Energie und Hoffnung. Anna, so hieß meine Großtante, habe ich kennengelernt, als ich elf Jahre alt war. Sie war eine alte, verbitterte Frau, die mir unter Tränen erzählte, dass sie ihren geliebten Sohn Walter im Krieg verloren habe. Vermisst. Lange gesucht. Ohne Erfolg. Ein unsagbar schmerzlicher Verlust. Sprachlos hörte ich zu. Mir fehlten die Worte.
Walter wurde in den letzten Kriegstagen als 17-jähriger Schüler eingezogen, kurz vor der Matura. Die Schulbücher nahm er ins Ausbildungslager mit. Er hoffte, dort lernen zu können und dass der Krieg bald vorbei sein werde. Diese Informationen habe ich einem Brief entnommen, den er seiner Tante Franziska geschrieben hat und der mir irgendwann in die Hände gefallen ist. Ich habe den mit Bleistift geschriebenen Brief noch. Und ein Foto: Walter als Kind. Alles, was von diesem jungen Leben geblieben ist. Und seine Schulbücher, die eines Tages bei der Räumung der Wiener Wohnung in unser Haus gekommen sind. Die Deutschbücher habe ich durchgeblättert. Voll von nationalsozialistischer Ideologie.
Mich berührt dieses Schicksal sehr. Die Grausamkeit des Krieges verstört mich und macht mir Angst. Walter ist einer von vielen, die nicht erwachsen werden durften, die ihr junges Leben an den Krieg verloren haben.
Anna, seine Mutter, ist über achtzig geworden und hat bis an ihr Lebensende um ihren Sohn getrauert.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2022-03-21