Ein Störfaktor

Daniela Noitz

von Daniela Noitz

Story
Wien 2023

Seit Jahren saß er, immer am gleichen Platz. Ich sah ihn, wenn ich vorbeiging. Immer wieder brachte ich ihm was zu essen. An diesem Tag war es besonders kalt. Sein Hund hatte sich fest an ihn gekuschelt. Warum er nicht in eine Notschlafstelle ginge, habe ich ihn gefragt, als er dankbar die Suppe und das Futter fĂŒr seinen GefĂ€hrten annahm. Das wĂ€re nicht möglich, meinte er, denn da dĂŒrfe er seinen Giuseppe nicht mitnehmen. Und er habe ihm versprochen, ihn niemals allein zu lassen. Ich verwies ihn an das Neunerhaus, in dem auch nicht-menschliche GefĂ€hrt*innen aufgenommen werden wĂŒrde. Er wĂŒrde es sich ĂŒberlegen. So verabschiedeten wir uns.

Als ich am nĂ€chsten Tag vorbeiging, war ich nicht da, aber ein rot-weißes Absperrband war gespannt. „Er ist heute Nacht niedergeschlagen worden“, erfuhr ich wenig spĂ€ter vom Portier des gegenĂŒberliegenden Hotels, der Nachtdienst gehabt hatte. „Aber warum? Und was ist mit Giuseppe?“, fragte ich. „Giuseppe?“, wunderte sich der Portier. „Sein Hund“, antwortete ich ungeduldig. „Ach ja, der, na ja, Köter halt“, meinte der Mann in Livree, der offenbar keinen Sinn fĂŒr Hunde hatte, „Da kamen drei Jugendliche vorbei und haben als erst den Hund erschlagen, der den alten Mann schĂŒtzen wollte und dann sind sie auf den Mann selbst losgegangen.“ Wortlos drehte ich mich um und ging. Wer tat so etwas? Wer ging auf einen wehrlosen alten Hund mit seinem Begleiter los, der niemanden etwas tat, nichts beanspruchte, als das bisschen Platz am Gehsteig. Deshalb ging ich zur Polizei und erfuhr etwas, was ich nie fĂŒr möglich gehalten hatte, weil es so absurd war.

Drei junge MĂ€nner, wohlhabend und gelangweilt, doch vor allem betrunken, waren an diesem Abend vorbeigekommen. Da beschloss einer der drei, dass dieser Mann mit seinem Hund störte. Er wĂ€re ihm im Weg und beleidige sein Ă€sthetisches Bewusstsein, wie er meinte. So etwas wie der dĂŒrfe nicht in seiner Stadt sein. Als der Mann nicht gehen wollte, habe er beschlossen, dass er ihn zwingen mĂŒsse. So ein Wandler dĂŒrfe ihm nicht widersprechen. Doch da war der Köter, der sich ihnen in den Weg gestellt habe. Deshalb haben sie ihn erschlagen. Leider war es ihnen bei dem alten Mann nicht gelungen. Dieser konnte noch rechtzeitig gerettet werden. Im Krankenhaus erfuhr er vom Tod seines Hundes. Zwei Stunden spĂ€ter lebte auch er nicht mehr. „Niemals wĂŒrde er ihn alleinlassen“, murmelte ich vor mich hin. „Wie bitte?“, fragte der Polizist. „Ich habe mit ihm gesprochen, kurz vor dem Vorfall, und er erzĂ€hlte mir, er wĂŒrde seinen Hund niemals alleine lassen“, sagte ich. Sein Versprechen hatte er eingehalten, sogar ĂŒber den Tod hinaus.

© Daniela Noitz 2024-01-10

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Emotional, Reflektierend
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