Ein ungebetener Gast

Sylvia Zemlyak-Böhm

von Sylvia Zemlyak-Böhm

Story
Wien 2024

Unsere Familie zeichnet sich durch eine herzliche Gastfreundschaft aus und wir freuen uns über jeden Besuch. Doch der Gast, der seit kurzem bei uns weilt, wurde nicht eingeladen. Er erschien plötzlich, klingelte mitten in der Nacht und weigert sich seither zu gehen. Sein Verhalten ist merkwürdig still und leise, gleichwohl spürt man seine Präsenz unübersehbar. Unauffällig hält er sich im Hintergrund, niemand in der Familie hat eine Sympathie für ihn, dennoch bleibt er hartnäckig. Er sitzt mit uns beim Essen und hat sich auch einen Platz auf unserer Couch reserviert. Er ist schlichtweg unverschämt. Dieser unerwünschte Besucher hat keine Berührungsängste und bringt ein Gefühl von Angst, Instabilität, Selbstzweifeln und Ungewissheit mit sich. Oft flüstern wir abends, wenn wir glauben, er könne uns nicht hören, und überlegen, wie wir ihn am besten loswerden können. Doch egal, wie sehr wir uns anstrengen, er bleibt hartnäckig. Sein Erscheinen fiel mit dem Tod meines Bruders zusammen. Wie gehen wir mit dieser Situation um? Wie befreit man sich von jemandem, der nicht zu einem passt? Sein Blick lastet schon lange auf mir und löst eine Welle der Angst aus. Ich reagiere mit schweißnassen Händen, während die anhaltenden Sorgen Magen- und Kopfschmerzen verursachen. Zudem begleitet mich ein mir bislang unbekanntes Gefühl der Unentschlossenheit, was wiederum Stress und Panikattacken auslöst. Wir benötigen dringend Hilfe, daran besteht kein Zweifel – er muss unsere Familie und unser Zuhause wieder verlassen.

Wir recherchieren und versuchen, seinen Namen herauszufinden. Die Suche gestaltet sich schwierig und schleppend, doch wir haben uns entschlossen, nicht aufzugeben. Jedes kleine Indiz verfolgen wir in der Hoffnung, unser Ziel zu erreichen. Ein weiterer Tag vergeht, an dem ich stundenlang am Computer sitze, ohne nennenswerte Fortschritte. Kurz schließe ich die Augen und murmle ein leises Gebet, in dem ich um Unterstützung oder einen hilfreichen Hinweis bitte. In meiner Verzweiflung erzähle ich einer Freundin von unserem Problem. Sie hört mir aufmerksam zu. Nach einer Weile antwortet sie, „Ich kenne deinen Gast, er war auch bei mir zu Besuch“. Aber auch sie wusste keine Lösung. Bei ihr ist er irgendwann einfach wieder verschwunden. Das bedeutet für mich, auf manche Fragen gibt es keine Antworten. Also versuchen wir, nicht mehr über ihn zu sprechen und ihn einfach zu ignorieren, in der Hoffnung, dass er irgendwann von selbst verschwindet. Monate vergehen und allmählich nehmen wir ihn kaum noch wahr. Wir bemühen uns, ihn zu akzeptieren und ihm mit Liebe zu begegnen. Unser Familienzusammenhalt hat sich durch diese außergewöhnliche Situation gestärkt. Diese Krise hat uns nicht auseinandergebracht. Gerade als wir uns für einen Nachmittagskaffee versammeln, läutet die Türglocke. Angstvoll blicken wir uns an. Wer könnte uns diesmal besuchen? Langsam öffne ich die Tür und vor mir steht eine junge Frau, die uns anlächelt. Sie erklärt, dass sie nach ihrem Freund sucht. Die Beschreibung passt zu unserem Gast. „Ich hole ihn ab, er ist schon viel zu lange euer Gast.“ Völlig verwirrt schauen wir sie an. Bereitwillig steht unser Gast auf und folgt ihr. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“, fragt mein Mann. „Natürlich“, antwortet die Frau. „Wer seid ihr?“ „Euer ungebetener Gast, mein Freund heißt Unsicherheit, und ich bin die Zuversicht.“

© Sylvia Zemlyak-Böhm 2024-09-19

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll
Hashtags