von Ulrike Sammer
Vor vielen Jahren studierten mein Mann und ich in Hamburg. Wir und unsere beiden Kinder lebten in einer Wohngemeinschaft. Die Zeit damals gehörte zu den ereignisreichsten und anregendsten unseres Lebens. Mit unserer WG-Freundin I. waren wir alle Jahre danach in losem Kontakt. Jetzt, zu Weihnachten, schrieb sie uns einen Brief, in dem sie einen Einblick in die Zeit, nachdem wir wieder Hamburg verlassen hatten, gab. Nach einigen Jahre zog I. nach Berlin. Hier gibt es ein paar (leicht veränderte) Kostproben ihres dortigen Lebens:
„Die Tage vor dem 24.12. verwandeln unsere Hausgemeinschaft traditionell in einen Bienenschwarm. Alles rennt und holt und bringt, „Tausche Zimt gegen Zwiebeln„ und umgekehrt, man fragt nach roten Schmuckbändern. Unsere Hausgemeinschaft ist schon als solche eine Art Weihnachts(Befreiungs-)Geschichte. Die meisten der Leute sind vor ca. 15 Jahren aus einem Kreuzberger Fabriksloft ausgezogen, wo sie zu 30 Leuten in revolutionärer Freiheit zwischen Behelfswänden gelebt hatten. Viele Kinder gingen aus unterschiedlichen Konstellationen hervor. Etlichen von ihnen (den älteren, westgesellschaftlich geprägten über 30 Jahren), gingen nach Jahren anstrengender Kollektiv-Überzeugung das Chaos, vor allem die unendlichen hochpolitischen Problem-Diskussionen und gegenseitige Anklagen auf den Geist, sie sehnten sich nach Privatheit. Sie fanden hier ein Haus, in dem Wohnungen leer standen.15 von ihnen wählten Paar- bzw. Elternkonstellationen und zogen in 7 Wohnungen ein, die sie gerne per Hand renovierten. In den ersten Jahren ging im Haus das Kreuz und Quer zwar noch halbrevolutionär weiter, verebbte aber allmählich ins Bürgerliche. Meine besonderen Freunde gehörten einer Patchworkfamilie an, die über das 5., 3. und 2. Stockwerk verteilt ist. Ich lernte, in welchem Stock Vater/Mutter von welchem Kind wohnt. Sie haben Einiges wieder eingeführt, dank hinzugekommener polnischer Gesponse: Weihnachtsfeiern. Man hatte sich in der antikapitalistischen Phase heimlich nach diesen Riten gesehnt. Heute laufen sie nach revolutionär diszipliniertem Programm ab: Welches Familienkollektiv macht, kauft, bereitet was vor, in welcher Wohnung feiern alle.
Eine – nennen wir sie Familie – mit 3 Kindern (die mit der postrevolutionären polnische Mutter) hat die Aufgabe, den kollektiven Weihnachtsbaum zu besorgen und zu schmücken, ihr gesellen sich jeweils andere sehnsüchtig unterstützend zu. Der gleiche Vater bereitet die Weihnachtsbowle, die Mutter polnisches Weihnachtsessen für den „Heiligen Abend“ (sie kann das gerne sagen, man ist tolerant) und so geht es rund. Zum 2. Feiertag fährt die Jugend (bis ca. 60 Jahre alt) zu einem postrevolutionären Besuch bei ihren Eltern nach Westdeutschland. Reich mit Leckereien beladen kommen sie zurück. Silvester naht, das neue Jahr wird kollektiv prostend empfangen, gerne nach demonstrativ rüstiger Klettertour aufs Dach.“
© Ulrike Sammer 2022-01-06