von Ferry Nielsen
Ich glaube, zumindest hier in Nordeuropa sind Berührungen Mangelware. Gerade in der Öffentlichkeit muss es immer Gründe für Berührungen geben. Und der Tango gibt die Möglichkeit, in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen zu berühren und zu umarmen. Eine enge Konfrontation mit sich selbst und mit anderen. Die zum Teil engste Umarmung wird beim Tango mit vielleicht vorher nie gesehenen, fremden Menschen praktiziert, da sie in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen passiert. Sonst wäre sie in der Öffentlichkeit oder im Privatleben unvorstellbar. Beim Tango Argentino heißt es nicht Tanzhaltung, sondern Umarmung: El Abrazo. Oft spürt man sofort in der ersten Sekunde, ob es mit jemandem passt oder nicht. Die Umarmung ist vielleicht das Wichtigste im Tango, und sogar der allererste Schritt im Tanz könnte alles entscheiden. Die Umarmung. Ohne sie geht nichts. Eine Tango-Umarmung kann lose, eng oder auch sehr eng sein – im Idealfall ein fließendes aufeinander achten und beantworten der Körperimpulse. So eng, dass beide Partner sich im „Apilado-Stil“ wie ein Zelt gegeneinander lehnen und dadurch eine neue eigene Achse bilden. Es gibt dann kein eigenständiges Individuum mehr. Beide sind eins. Tänzerin und Tänzer bilden eine Einheit. Ein Paar verschmolzen in ihrer innigen Umarmung. Zwei fremde Menschen werden zu einem Paar. Das gibt es bei keinem Volk der Welt, bei keiner Kultur – nur beim getanzten Weltkulturerbe Tango. Tango Argentino ist die Kultur des Umarmens, des gegenseitigen Achtens, des Achtens der Menschenwürde. Ein sensibler Leader merkt bei einer neuen Tanzpartnerin eigentlich im ersten Moment der Umarmung, ob es funktioniert oder nicht. Sehen wir die Enge eines Tanzpaares als eine Bedingung, ohne die etwas nicht gelingen kann – nämlich der Tango. Jedes Element wird über Mikrobewegungen des Oberkörpers oder der Füße geführt -winzige Impulse, die immer wieder gesendet und empfangen werden.
Die Umarmung variiert eigentlich ständig während des Tanzes. Sie ist natürlich auch immer vom getanzten Stil und den Figuren abhängig. Im Tango Nuevo zum Beispiel weiter als im Tango Salon. Der Tanz ist oft durch Sequenzen und Muster gekennzeichnet, wobei viele Paartänze von einer Reihe auswendig gelernter Schritte oder Figuren abhängen, die während der Aufführung befolgt werden. Das ist beim argentinischen Tango nicht der Fall. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Tango keine eingelernten, etablierten Figuren oder Schritte hat. Tatsächlich gibt es verschiedene, teils äußerst komplizierte Schritte, die auf seinen Grundelementen aufbauen.
© Ferry Nielsen 2025-02-05