Endstation Sehnsucht

Bianca Lohr

von Bianca Lohr

Story

Ort der Handlung: ein beliebiger Bahnhof in Deutschland. Starring: die Schilder an den Zügen. Sobald ich die Namen darauf lese, fange ich an zu träumen.

Ich würde so gern mal in einen dieser Züge einsteigen. Ohne es vorher geplant zu haben. Während ich eigentlich nach Dresden will, würde ich zum Fahrkartenschalter gehen und sagen: „Einmal nach Breslau bitte, nur die Hinfahrt.“

Normalerweise fühle ich diese Sehnsucht nur bei Fernzielen wie „München – Paris“ oder „Berlin – Warschau“. Heute steht auf dem Schild „Heidelberg – Westerland“. Aber Westerland ist ein spezieller Fall. Denn hinter diesem Namen steckt auch ein Mann. Besser gesagt ein Junge, denn er war damals erst 18 oder 19.

Seine Frisur würde heute als trendige Mischung aus Brit-Pop und Out-of-bed bezeichnet werden, damals galt sie nur als unordentlich und zerzaust. Jungs hatten entweder lange Haare, die waren dann einfach lang, oder kurze, die waren dann einfach kurz – und meist sehr langweilig. Bente war seiner Zeit also weit voraus.

Ich erinnere mich noch an seinen Namen, weil ich den ziemlich doof fand. Den Menschen hinter dem Namen hingegen gar nicht. Der war gutaussehend, wild, unangepasst und geheimnisvoll. Wir haben uns unter den 100 Jugendlichen, die bei einem Wochenend-Seminar auf eine Reise vorbereitet wurden, sofort als Gleichgesinnte erkannt. Haben gequatscht, geflirtet, gelacht.

Bente hat mir erzählt, dass er in Westerland wohnt. Das hat mir damals noch nichts bedeutet. Ich kannte nur das Lied von den Ärzten und hab mir gedacht: Ah interessant, Westerland liegt also auf Sylt.

Meine Sehnsucht nach der Insel entwickelte sich erst Jahre später. Vielleicht als ich mit Anfang Zwanzig die Ostsee für mich entdeckt hab. Von wegen Norden, Meer und Sehnsucht. Oder wegen Christian Kracht und „Faserland“.

Bente und ich, wir hatten nur das eine Wochenende, denn wir waren fĂĽr unterschiedliche Reisen angemeldet. Aber wir sprachen nicht ĂĽber das Danach, der Moment war uns genug.

Als meine Eltern Sonntag Nachmittag auf den Hof fuhren, um mich abzuholen, lagen wir ineinander verknotet unter einem kleinen Vordach im Schatten und knutschten. Im Auto fragte meine Mutter: „Wer war das denn?“ Das „das“ sehr langgezogen und mit angewidertem Unterton.

Ich hätte mir über die Organisation Bentes Adresse besorgen können. Aber für mich war Westerland damals eine kleine Stadt. Ich dachte immer, wenn ich ihn mal finden will, fahre ich einfach hin und frage nach ihm.

Mittlerweile weiß ich, dass Westerland doch etwas größer ist. Aber vielleicht wäre es trotzdem leicht. Vielleicht ist Bente auch auf Sylt ein seltener Name.

Ich hab nie versucht, es rauszufinden. Lieber fĂĽhle ich die Sehnsucht, wann immer auf einem Zugschild steht: Westerland / Sylt. Und denke an jenen Jungen, der mir in einem Sommer vor vielen Jahren so ein bisschen den Kopf verdreht hat.

© Bianca Lohr 2021-06-12

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