Erster Brief an Madeleine

Michelle Reznicek

von Michelle Reznicek

Story

Meine liebste Madeleine,

Der Frühling geht durchs Land. Die Bauern holen ihre Maschinen aus den Scheunen, die Vögel sind aus dem Süden zurück und pfeifen morgens wieder so laut, dass man nicht schlafen kann. Im Dorf hat sich kaum etwas verändert. Fräulein Sophie ist aus der Stadt zurück und träg die neueste Mode. Sie ist nun doch nicht verheiratet. Der Freund aus der Stadt, der Uhrenverkäufer, von dem ich dir geschrieben habe, hat sie nun doch nicht ehelichen wollen. Er habe nur Uhren im Kopf, sagt sie. Frau Sandra und Frau von Wittwen zerreißen sich das Maul hinter ihrem Rücken und meinen, sie sei keine große Opernsängerin mehr, sie müsse sich jetzt auch mit dem zufriedengeben, was sie bekomme, und sie müsse ja auch mal an den Olaf denken. Wie lange soll der arme Junge noch ohne Vater sein? Doch Fräulein Sophie lässt sich von ihrem Gerede nicht stören. Sie hat sich nicht verändert. Sie ist etwas älter geworden. Sie und ihre Mutter streiten sich immer noch. Als Kinder haben wir sie oft sogar auf der Straße vor ihrem Haus gehört. Weißt du noch? Ihr Sohn Olaf kommt im Sommer in die dritte Klasse. Kannst du dir das vorstellen? Der kleine Olaf, den alle für sonderlich gehalten haben, ist ein richtiger Junge geworden. Er ist richtig frech und stellt allerlei Unsinn an. Doch eigentlich haben sie ihn alle gern, den Olaf. Besonders die Sandra, die Tochter vom Bürgermeister. Neulich erst hat man sie beim Küssen erwischt, hinter der großen Scheune vom alten Martin. Da wo sie alle hingehen, wenn sie sich heimlich küssen. Dort wo auch du und ich uns zum ersten Mal geküsst haben. Erinnerst du dich noch? Gleich beim Tulpenbeet von der alten Muriel, der Schwester vom alten Martin. Die Tulpen sind übrigens besonders schön dieses Jahr, habe ich gesehen. Der große Holunderbaum beim Tulpenbeet blüht bald. Er ist so voll von Blüten, dass es eine richtig gute Ernte geben wird. Muriel hat schon Gläser bereitgestellt. Damit sie dann auch Konfitüre verkaufen kann. Und vom Geld will sie auch so einen Hut kaufen, wie Fräulein Sophie ihn hat. Aber einen anständigen. Für Sonntag in die Kirche. Man munkelt, sie träfe sich heimlich zum Tee mit dem alten Pfarrer. Kannst du dir das vorstellen? Das hätte sie schon früher machen sollen, damals, als wir sie als Kinder heimlich beim Spaziergang beobachtet haben. Es hat sich kaum was verändert. Nur dass wir jetzt erwachsen sind und unsere Kinder sich jetzt heimlich hinter der Scheune küssen und nicht mehr wir. Susi, die mit dir damals zur Sonntagsschule gegangen ist, hat diese Woche geheiratet. Den Sepp. Der immer die Kirschen geklaut hat von der alten Ruth. Sie ist jetzt achtundneunzig, aber daran erinnert sie sich noch gut. Sie war gar nicht begeistert, als der Peter, ihr Sohn, den Sepp angestellt hat. Aber er ist schon in Ordnung. Lisa hat den Sam genommen. Elisabeth den Tim. Und Berta den Urs. Jan und Greta haben sich getrennt, aber letzte Woche habe ich gesehen, wie sie Händchen gehalten haben. Also, wer weiß. In Liebe, dein Felix

© Michelle Reznicek 2022-08-12

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