von Marv Marvmallow
Gestern war Samstag. Es war kein guter Tag. Dunkel und Regen, und abends sollte es Gewitter geben. Doch es blieb bei Sturm und Stark-regen, sodass der Innenhof überschwemmt wurde. In manchen Kellern lief das Wasser sogar von den Wänden.
Ich habe drinnen mit Tränen in den Augen ein paar Klamotten aussortiert. Nebenbei ein doppelter Espresso, der ziemlich bitter schmeckte, und beim Puzzle kam ich gar nicht weiter.
Und ich habe dich vermisst.
Heute ist Sonntag. Es ist ein super Tag! Die Sonne scheint ganz hell und grell und warm. Ich fühle mich umarmt von jedem einzelnen Sonnenstrahl. So mollig, so wohlig. Alles läuft heute ganz nach Plan und manches sogar spontan, aber dadurch nicht weniger gut.
Solche Tage spenden Kraft und Mut: was für ein wunderschönes Leben! Nebenbei ein doppelter Espresso, der angenehm holzig schmeckt, und beim Puzzle fehlt irgendwie ein Teil.
Und ich habe dich vermisst.
Morgen ist Montag. Was dieser Tag bringen wird, weiß ich noch nicht. Vielleicht ist da Regen oder es wird Schnee geben. Vielleicht scheint die Sonne hell oder der Tag vergeht viel zu schnell – keine Ahnung.
Die Zukunft ist ein unklarer Nebel, der sich erst in der Gegenwart verfestigen wird. Daran will ich gar nichts ändern. Denn eine Sache kann ich trotzdem genau wissen: Morgen werde ich dich vermissen.
Wie jeden Tag, seit das Leben mir dich wegnahm. Nicht nur mir, sondern uns allen, die noch hier verweilen. Dich jeden Tag zu vermissen, ist sicher nicht das beste Ritual, doch der Trauerprozess dauert nun mal individuell. Da gibt es nicht „zu lange“ oder „zu schnell“. Jeden Tag denken wir an dich und dein Gesicht mit diesem einzigartigen Lächeln, links mit dem Grübchen. Das fehlende Puzzleteil bist du und dein Lächeln. Es tut höllisch weh.
Vielleicht bin ich auch süchtig nach diesem Schmerz. Ich will nicht, dass er aufhört, weil das Leben nie wieder so sein wird, wie es mit dir war. Mein emotionaler Innenhof ist überschwemmt von den Tränen. Sie münden in einem dunklen See. Auf ihm liegt Schnee und die Sonne scheint schwarz und warm und mutig. Dämme brechen und der Nebel bricht herein und irgendwo fliegt ein Luftballon vorbei. Er hat die Form eines Puzzleteils. Unter Tränen greife ich das Band vom Ballon, dabei weiß ich, dass das ungesund ist. Irgendwann muss ich loslassen. Aber nicht heute. Auch nicht morgen. Denn ich möchte dich noch ein bisschen vermissen. Nur noch ein bisschen.
Übermorgen ist ein neuer Tag.
Vielleicht finde ich dann das Puzzleteil. Vielleicht lag es die ganze Zeit unter dem Schrank, vor meinen Augen, doch außerhalb des Sichtfelds. Das Puzzleteil mit deinem Lächeln darauf. Ich greife es und führe meine geschlossene Hand zu meiner Brust.
Nun muss ich selbst lächeln.
Du bringst mich zum Lächeln. Immer noch! Vielleicht muss ich dich gar nicht für immer vermissen. Denn dein Lächeln lebt in meinem Lächeln weiter. Loslassen bedeutet nicht „vergessen“. Ich erkenne: Solange du nicht vergessen bist, bist du noch hier, nur eben in einer anderen Form als gewohnt. Vielleicht als Emotion. Sie überdauert die Unendlichkeit als Sehnsucht, Lächeln und Dankbarkeit.
Vielleicht versuche ich übermorgen, das Puzzleteil loszulassen und auch den Luftballon.
Aber niemals dich. Denn ich liebe dich.
© Marv Marvmallow 2024-07-08