Für immer jung

Eva Filice

von Eva Filice

Story
auf der Straße 1973 – 1991

Der Sommer im Jahr 1973 war sehr heiß. Ich wohnte in der Rotenturmstraße und der Lärm der U-Bahnbaustelle war Tag und Nacht zu hören. In der Mittagspause traf ich fast täglich meine damals 19-jährige Schwester Lucy, die in einem Modesalon am Graben nach dem Abschluss der Modeschule eine Arbeit gefunden hatte. Für die bevorstehende Geburt meines ersten Kindes hatte sie ein wunderschönes Taufkleid genäht. Ich freute mich auf das Wochenende, denn ich hatte im Teegeschäft Schönbichler verschiedene Marmeladen für das Frühstück besorgt. Die Nächte verbrachte ich unruhig, da mein Bauch schon sehr groß war, die Geburt war in drei Wochen geplant.

Samstag in der Früh, es war der 4. August, läutete an der Tür. Wir erwarteten niemanden. Wer könnte das sein? Mein damaliger Mann begab sich zum Eingang. Ich hörte leise Stimmen, die mir bekannt vorkamen, die ich aber nicht zuordnen konnte. Ich saß aufrecht im Bett, als ich beim Eintreten meines Mannes wusste, dass ein Unglück passiert war. Welches, das hätte ich mir nicht im Traum ausmalen können. „Lucy ist tot. Heute Nacht. Ein Autounfall.“ Ich glaubte zu träumen. Bilder rasten in meinem Kopf wie in einem schlechten Film. Meine Cousine und ihr Mann saßen im Wohnzimmer, bleich und betroffen. Ich fand keine Worte, fasste das Unsagbare nicht. Ich glaubte in ein Loch zu fallen. Die Tage danach zogen an mir wie im Nebel vorbei, die Freude auf mein erstes Kind und der Schmerz über den unerklärbaren Tod meiner Schwester trugen in meiner Gefühlswelt ungleiche Kämpfe aus. Die Begegnung mit meinen Eltern war erschütternd. Ihr Leid war für mich schwer zu ertragen. Jeder von uns verschloss sich, um den anderen durch den eigenen Schmerz nicht zu belasten.

Drei Wochen danach wurde mein erstes Kind, meine Tochter Barbara geboren. Meine Eltern wurden zum ersten Mal Großeltern. Die Freude über die Enkelin war riesengroß, die Trauer über die verlorene Tochter blieb, denn die Leerstelle war überall und für alle spürbar. Seit 51 Jahren hängt das Foto, das am Abend vor Lucys Tod von Freunden aufgenommen wurde, im Vorzimmer. Lucy ist nie gealtert. Sie bleibt für immer jung. In der Erinnerung an meine fröhliche Schwester, die ihre Kreativität in vielfacher Weise zum Ausdruck gebracht hat, bleibt Lucy für mich voll Esprit und – für immer jung! Welche Zukunft wurde ihr durch einen verantwortungslosen Autofahrer geraubt? Welche Chancen konnte sie nie wahrnehmen? Die tote Schwester, die tote Tochter, die tote Enkelin – sie war und ist die große Leerstelle in der Familie.

Und als ob das nicht genug wäre, erlitt unsere Familie 18 Jahre danach einen weiteren Schicksalsschlag. Papa fuhr mit dem Fahrrad zum Bäcker, als er von einem niederländischen Auto niedergestoßen und tödlich verletzt wurde. Mama erlitt einen Nervenzusammenbruch, Papa wurde mit dem Hubschrauber nach Eisenstadt ins Spital gebracht, wo er wenige Minuten vor meiner Ankunft starb. Es war der erste Tag der schriftlichen Matura für Barbara. Auch Papa hatte noch so viele Pläne. Für Mama brachen alte Wunden auf und eine weitere Welt zusammen. Meine beiden Kinder verloren ihren so sehr geliebten Opa und ich den besten Vater der Welt.

© Eva Filice 2024-08-03

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Anthologien
Stimmung
Emotional, Traurig
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