von Stephan Hofinger
Kaum ein Dichter ist für mich dem Leben so innig nah wie Rainer Maria Rilke. Seine feine Wahrnehmung der Außenwelt und des Weltinnenraumes weckt bei jedem Lesen wieder Bewunderung in mir. Und sein poetisches Wortgespür für das oft Unsagbare fasziniert mich, wenngleich mir manches davon wohl immer unverständlich bleiben wird.
In seinem „Stunden-Buch“ findet sich eine meiner Lieblingsstellen, in der er sich besonders dicht mit lebendiger Sehnsucht auseinandersetzt: „Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.“ Weit vor unserem persönlichen Bewusstsein liegt für Rilke unser Angesprochen-Sein, das als leiser Nachklang einer unendlichen Liebe in der Tiefe des Herzens – oft verschüttet – aufgehoben ist. Auch wenn sich Gott als Bezeichnung dafür vielleicht nicht mehr stimmig anfühlt, irgendwie ahnen wir diese Urgeborgenheit alle.
„Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte, sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gieb mir Gewand.“ Ein sanfter Lockruf ins Leben: Wenn ich über dieses „geh bis an deiner Sehnsucht Rand“ meditiere, spüre ich, wie von ganz innen Lebendigkeit in die Entfaltung drängt, wie ein Frühlingskeim, der wachsen und blühen möchte. Schöpfung ist so betrachtet kein vollendetes Werk, sondern ein göttlicher Wunsch nach Sichtbar-Werdung und Gestalt-Annahme – danach, Gewand zu bekommen, wie Rilke es formuliert. Ich darf, ja soll, selbst zum Schöpfer werden – ein inspirierender, gleichzeitig auch verantwortungsvoller Auftrag.
Rilke schließt die Passage mit folgenden Zeilen: „Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Lass dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen.“ Sogar groß schreibt mir Rilke das Wort „Alles” ins Stammbuch: Kennt er mein Verhaltensmuster, am Schönen, an der wohligen Komfortzone festzuhalten? Und kennt er auch den oft krampfhaften Versuch, jeden Schrecken kontrollierend fernhalten zu wollen? Angst oder Leben: Bleibe ich mit meinen ängstlichen Mustern letztlich fern von etwas, das als Einheit gedacht war, nur als Einheit zu haben ist? Ein herausfordernder Gedanke.
In der vertrauensvollen Annahme jedweder Erfahrung liegt der SchlĂĽssel zur FĂĽlle. Nur mit offener Empfindsamkeit des Herzens komme ich in Resonanz mit dem Geheimnis des Lebens.
Ich ĂĽbe.
© Stephan Hofinger 2021-01-08