von Anatolie
An der Schwelle zwischen Wachzustand und Traum betrete ich die spärlich beleuchtete Bahnhofshalle. Sie wirkt wie ein vergessener, heruntergekommener Ort. Zwischen wucherndem Gestrüpp steht ein Zug zur Abfahrt bereit. Mattes Neonlicht spiegelt sich in den Scheiben, die Waggons sind zum Bersten voll. Jene, die noch einen Sitzplatz ergattern konnten, starren unbeteiligt auf ihre Handys oder glotzen leeren Blicks ins Nirgendwo. Dahinter und dazwischen kämpft die drängelnde Masse um einen Platz zum Stehen. Alle wollen dringend von hier weg und scheinbar ist das die letzte Eisenbahn. Ich weiß zwar nicht wohin es geht, mir ist nur klar, ich muss da mit. Außen, entlang der Fensterreihen, klammern sich Menschen wie Verzweifelte an jede verfügbare Halterung, finden an den Schiebefenstern oder auf dem Trittbrett Halt. Nur ein einziger dieser Nischenplätze ist noch frei, meine letzte Chance. Ich springe auf, dann ertönt ein Pfiff, quietschende Schienen, der Zug fährt ab. „Na, auch neu hier?‘ spottet jemand aus der Nähe. „Hast wohl auch kein Vorzugsticket bekommen“. Wahr ist, ich habe überhaupt kein Ticket gebucht. Ich hörte nur dieses innere Flehen. Und die unbedingte Aufforderung zu gehen. „Halt dich sehr gut fest – damit du während der Fahrt nicht runterfällst“. Mahnende Worte von jenen, die wohl auch ihre bestimmten Gründe haben, wieso sie draußen sind.
Im Affenzahn rattert der Zug durch die stockfinstere Nacht, gefühlt so lange die ein Arbeitstag Stunden hat. Die Insassen in ihren bequemen Sitzen lesen Zeitung, kümmern sich nicht um uns frierende Zaungäste da draußen. Arme, Beine und Glieder schmerzen im eisigen Fahrtenwind. Irgendwo habe ich eine Stange eingehakt, halte sie während dieser Wahnsinnsfahrt krampfhaft umklammert. Bei jeder Erschütterung schneidet sich ihre Kante messerscharf in mein Fleisch. Ein paar Kobolde treiben Schabernack zwischen den Vehikeln. Geschickt wie Zirkusakrobaten hangeln sie sich ums fahrende Zug-Gestell, kichern dabei und schneiden uns Grimassen. „Hör und sieh nicht hin“, warnt eine Stimme neben mir. „Die wollen uns nur ablenken damit wir schwanken und den Halt verlieren“.
Im Morgengrauen ist Endstation, der Zug fährt ein. Es ist wieder eine Art Halle im fahlen Dämmerlicht, niemand kann uns sagen, was uns da draußen hinter den Toren erwartet. Und doch, die Stimmung unter den Gestrandeten ist beinahe feierlich. Alle, die an den Simsen mitgehangen sind, springen erleichtert ab. Geschafft! Jeder hat es ziemlich eilig, die, die dem Ausgang am nächsten sind, hasten raschen Schritts voran, als gäbe es wieder den besten aller Plätze zu besetzen. Meine alte Haltehilfe, die verbeulte, rostige Stange, werfe ich weg. Viele solcher Behelfsmittel liegen noch hier rum, zurückgelassene Relikte früherer Fahrgäste. Ich kralle mir noch rasch eine der stärkeren, robusteren, nehme sie mit auf den Weg. Vielleicht werde ich sie später noch brauchen.
(Handlung fiktiv einem Traum entnommen)
© Anatolie 2021-08-26