Genuss

Elli-Heiglmaier

von Elli-Heiglmaier

Story

Langsam und vorsichtig beginnt sie das goldene Papier das die kleine, braune Kugel umhĂĽllt, abzuwickeln.

GenĂĽsslich und voller Vorfreude betrachtet sie diese von allen Seiten und ĂĽberlegt, von welcher Seite sie am besten hineinbeiĂźen soll.

Während so mancher die kleine Köstlichkeit voller Ungeduld einfach als Ganzes in den Mund schieben würde, beißt sie ein winziges Stück ab.

Ich habe noch nie jemanden eine Mozartkugel so essen gesehen.

Das ganze hatte aber nichts mit bewusstem Essen oder GenieĂźen bzw. mit Achtsamkeit zu tun (schlieĂźlich wird einem ja gesagt wenn Schokolade dann bitte mit Genuss) sondern hatte einen tragischen Hintergrund.

Der Grund heißt „Magersucht“.

Bei jeder Firmenjause behauptete sie, sie hätte zu Hause schon zu viel gegessen.

Wenn es Kuchen gab, sagte sie, sie hätte ihren bereits gegessen – in Wahrheit hatte sie ihn in einem unbeobachteten Moment in ihrer Handtasche verschwinden lassen.

Ich habe sie in all den Jahren, in denen ich mit ihr zusammen gearbeitet habe, nicht einmal etwas essen gesehen.

Es sei denn, man nennt folgendes „essen“:

Am Vormittag, wenn die anderen Kaffee tranken, „trank“sie Kakao.

Sie löffelte ihn mit einem kleinen Teelöffel.

Ab und zu gab es Buttermilch.

Am Ende wurde die Verpackung mit einer Schere aufgeschnitten und der letzte Rest vom Karton abgeschleckt.

Ich möchte betonen, daß ich mich hier keinesfalls über dieses Thema lustig machen will.

Im Gegenteil, ich finde es tragisch. Ich habe einen Fernsehbericht gesehen – es steckt unheimlich viel Leid bei den Betroffenen, aber auch bei den Angehörigen hinter dieser Krankheit.

FĂĽr die Betroffenen ist es eine Qual etwas essen zu mĂĽssen.

Mir tat meine Kollegin leid und ich vermied, sie auf das Thema anzusprechen.

Eine andere Kollegin konnte es nicht lassen.

„Isst du wirklich NIE etwas!!?“

Man merkte, wie dieses Thema bzw. diese Frage sie aggressiv machte.

Ich stelle es mir irrsinnig anstrengend vor, sich ständig rechtfertigen zu müssen und irgendwelche „glaubwürdigen“ Ausreden und Erklärungen parat zu haben.

„Natürlich esse ich ab und zu etwas“, sagte sie patzig. „Glaubst du ich lebe nur von Luft und Liebe allein!!?“

„Und was genau ißt du “, bohrte meine Kollegin nach.

„Ab und zu esse ich ein „Twix“ oder ein Käsebrot.

Noch unglaublicher wurde es, als sie eines Tages behauptete, am Wochenende beim Grillen eine Käsekrainer gegessen zu haben.

Die „überschüssigen“ Kilos versuchte sie mit Sport zu kompensieren.

Ihre Mutter – normal gewichtig – begleitete sie dabei. Ich weiß nicht, wie die Mutter mit dem Problem ihrer Tochter sonst umgegangen ist, aber das stelle ich mir kontraproduktiv vor.

Die beiden gingen jeden Tag laufen, bergauf ĂĽber 2 Stufen auf einmal.

Eines Tages stellte meine Kollegin fest, ihre FĂĽĂźe wĂĽrden davon schon zu dick und sie mĂĽsse das Treppenlaufen reduzieren…

© Elli-Heiglmaier 2020-03-13