von Erika Eck
Die Chinesen verwenden den Ausspruch „das Gesicht verlieren“ in allen Lebenslagen und in allen Lebensbereichen. Man muss sich das bildlich vorstellen, wenn man tatsächlich „sein Gesicht verliert“! Das heißt, es entgleiten einem die Gesichtszüge, ein Lächeln friert ein, aus einem freundlichen Gesicht wird auf einmal eine Fratze, man bildet innerhalb von Sekunden Grimassen, die weh tun, wenn man unmittelbar in dieses entgleiste Gesicht schauen muss!
Aber wie oft „verliert“ man in seinem Leben das Gesicht!?
Meistens ist es so, dass man sich noch abwenden kann, bevor man das Gefühl hat, sein Gesicht sei wie ein offenes Buch, in dem der andere alles lesen kann, was man gerade zu verbergen versucht hat.
Und wie viele Gesichter hat der Mensch!? Gesichter sind manchmal ein Spiegelbild der Seele, Gesichter verraten Geheimnisse, Gesichter verstecken Schandtaten, Gesichter offenbaren Schreckliches oder unendlich Freundliches! Jeden Augenblick kann das Gesicht anders ausschauen. Auch müde und verhärmte Gesichter sprechen Bände über den Menschen und sagen viel aus.
Gesichter sind ein Zusammenspiel von Augen, Mund und Gesichtsmuskeln und daraus ergibt sich die Mimik eines Gesichtes. Hartgesottene Menschen haben ein „Pokerface“, das gar nichts verrät, das keinen Spielraum für irgendeinen Gedanken zulässt. Weiche Menschen wiederum können keinen einzigen Gedanken verbergen, in ihren Gesichtern kann man lesen wie in einem offenen Buch!
Sollten wir uns wirklich bemühen, nicht das Gesicht zu verlieren? Wenn unsere Unwissenheit, Schwächen oder Mängel plötzlich bloßgelegt werden, kann dies negative Emotionen hervorrufen. Wer das „Gesicht verliert“, fühlt sich erniedrigt oder ausgegrenzt, um nicht zu sagen, er fühlt sich verraten, aufgedeckt, erwischt! Der Ausdruck kommt wahrscheinlich daher, dass man schamrot im Gesicht wird oder plötzlich erbleicht, wenn man das Gefühl hat, eine „Schmach“ erlitten zu haben und am liebsten im Erdboden versinken würde, um nichts mehr sehen und hören zu müssen! In China geht es um mehr als ein gesellschaftliches Konzept: Bloß nicht das Gegenüber das Gesicht verlieren lassen und auch selbst keinen Fehler oder eine negative Emotion zugeben! Denn dies gilt als unverzeihlicher Verstoß gegen die Umgangsformen. Auch wenn keine Absicht dahintersteckt, wenn einem etwas einfach nur unglücklicherweise „passiert“.
Im Laufe seines Lebens lernt man, seine Gesichtszüge zu beherrschen, einen Mantel über sein Gesicht auszubreiten, Emotionen zu verbergen. Man kann mit seinen Gesichtszügen spielen, sie gezielt einsetzen, aus unzähligen „Gesichtern“ auswählen. Und dennoch entgleiten manchmal die Gesichtszüge in Situationen, die sekundenschnell vor sich gehen, die man nicht voraussehen oder erahnen kann, die unvorhergesehen über einen hereinbrechen!
Wie gut, dass man nicht immer alles kontrollieren kann, dass auch sein Gesicht der Spontaneität ausgeliefert ist!
© Erika Eck 2020-10-04