An meinem 10. Geburtstag bin ich gerade mit meinen Eltern auf Urlaub in Osttirol. Die Schönheit der Lienzer Dolomiten lĂ€sst mein Herz aufgehen. Eigentlich mag ich nicht mit meinen Eltern Urlaub fahren. Mein Vater will weder fliegen noch ins Ausland fahren und meine Mutter ist bei allem Neuen ĂŒberĂ€ngstlich. Hohe Berge sind fĂŒr sie zwar schön anzuschauen, aber die Leute, die da raufgehen, hĂ€lt sie fĂŒr verrĂŒckt und lebensmĂŒde. Mein Vater wĂŒrde auch nie auf einen Berg gehen, er besitzt nicht einmal Wanderschuhe. Trotzdem will er mit uns nach Kals am GroĂglockner fahren, denn den höchsten Berg Ăsterreichs, den sollte man schon einmal gesehen haben. Vor ein paar Tagen sind wir ĂŒber die GroĂglockner HochalpenstraĂe gefahren, aber da konnte man den Berg gar nicht sehen, weil es viel zu bewölkt war. Nur der Ort Heiligenblut hat mich fasziniert, dorthin möchte ich eines Tages zurĂŒckkehren. Wieder bei bewölktem Himmel fahren wir also nach Kals zum Lucknerhaus.
Der Gipfel des GroĂglockners ist wieder in einer Wolke verborgen. Zahlreiche Wanderwege beginnen hier und wir gehen ein StĂŒck den Schotterweg entlang in Richtung LucknerhĂŒtte und StĂŒdlhĂŒtte. Doch meine Mutter jammert schon nach kurzer Zeit, dass sie nicht mehr bergauf gehen will und wir kehren um. Im Lucknerhaus warten Kaffee und Kuchen. Weil es leicht zu regnen begonnen hat, ist die HĂŒtte ziemlich voll und wir setzen uns zu einem BergfĂŒhrer an den Tisch. Er erzĂ€hlt, dass er gerade vom Glockner herunter gekommen ist und schon x-mal auf dem Gipfel war. Seine Geschichten faszinieren mich. Er strahlt mit seiner braungebrannten, faltigen Haut eine besondere Naturverbundenheit und Ruhe aus. Als er erfĂ€hrt, dass ich heute Geburtstag habe, öffnet er seinen Rucksack: âIch hab da was fĂŒr dich â alles Gute!â Er schenkt mir ein echtes EdelweiĂ, das er gerade gepflĂŒckt hat, und dazu ein paar AlmrauschblĂŒten. Ich bewundere die haarigen BlĂŒtenblĂ€tter der Pflanze, die sich wie Samt anfĂŒhlen â noch nie habe ich ein echtes EdelweiĂ gesehen. GlĂŒcklich und dankbar verlasse ich nach dem Regen die HĂŒtte. Da hebt sich plötzlich die Wolke und der Glocknergipfel kommt zum Vorschein. Ein mĂ€chtiger, wunderschöner Berg, mit dem ich mich sofort in besonderer Weise verbunden fĂŒhle. Ich möchte da rauf â natĂŒrlich weiĂ ich, dass das heute und mit meinen unsportlichen Eltern nicht geht â aber eines Tages möchte ich da rauf und das Gipfelkreuz berĂŒhren.
Jahre spĂ€ter sehe ich den Kalser BergfĂŒhrer wieder â in einer Universum-Dokumentation ĂŒber den Glockner, die die Faszination dieses Berges eindrucksvoll zeigt. âDer geheimnisvolle schwarze Kristall, der in seinem Inneren verborgen sein soll â es ist der Berg selbst!â
Alle paar Jahre kehre ich nach Heiligenblut zurĂŒck und wandere in der Glocknerregion. Der Traum, den ich mir an meinem 10. Geburtstag in den Kopf gesetzt habe, ist noch immer prĂ€sent. Ich muss aber noch an meiner Kondition arbeiten. Vielleicht schaffe ich den Gipfelsieg zu meinem 40er.
© Gerlinde Bruckner 2020-10-15