Grenzenlose Freiheit

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story

Man schreibt das Jahr 2020 als Elisabeth auf der Wiese liegt und den Wolken nachschaut. Sie liebt es, sich ganz flach auf der Erde auszustrecken, den Boden zu spüren und nur den Himmel zu sehen. Sie hat genau den Platz gefunden, wo kein Baumwipfel, kein Kamin, kein Kirchturm den Himmel stört. Sie schaut den Wolken nach und wundert sich, was heute so anders ist – so ungewohnt.

Es sind die Flugzeuge, vielmehr – keine Flugzeuge! Normalerweise ziehen Kondensstreifen durch das Firmament, zeichnen Linien und Kreuze, brausen aufeinander zu, um dann doch nicht zusammenzustoßen, sondern über- und untereinander ihre Bahn zu finden. Heute ist der Himmel frei. Ein Glücksgefühl durchströmt sie. Komisch, als Kind hat Elisabeth jedem Flieger nachgeschaut und ihm zugerufen: “Nimm mich mit!” Es war so selten, dass man das himmlische Motorengeräusch vernahm. Einmal zu fliegen war ihr großer Traum. Später Reinhard Mey’s Lied: “Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.” Ja, damals war die Freiheit grenzenlos.

Mit 25 Jahren ist Elisabeth zum ersten Mal geflogen – nach London. Bisher hatte sie diese Reise zweimal mit Bus, Zug und Fähre gemacht – mehr als einen Tag und eine Nacht dauerte die Fahrt.

Nun saß sie im Flugzeug – kein Warten, kein Anstehen, kein Gedränge.

In adrette Uniformen gekleidete Stewardessen begleiteten sie zum Fensterplatz. Die liebenswürdige Einweisung in die Sicherheitsvorkehrungen, die Elisabeth aufmerksam verfolgte, fühlten sich sehr aufregend an. Und dann hob sie ab, die Maschine – mit Elisabeth. Und sie flog über die Wolken und sah den Wolken von oben herab nach. Leise summte sie vor sich hin: „I looked at clouds from all sides now, from here and there, from everywhere, it’s clouds illusions I recall, I really don’t know clouds at all.“

“Wünschen Sie einen Aperitif?” schreckte sie eine freundliche Stimme aus ihren Träumen. “Yes please, a Whiskey!“ Sie wähnte sich bereits in England. Dann folgte das Essen. Dazu wurde Wein serviert. “A Brandy with your coffee?” – Inzwischen hatte auch die Stewardess auf Englisch gewechselt. Natürlich ja – Fliegen ist doch grenzenlos! Leicht beschwipst, aber glückselig stieg Elisabeth aus dem Flugzeug. Ja so war das damals – 1970!

Elisabeth ist noch oft geflogen, in langen Abfertigungsschlangen gestanden, in dichtgedrängten Großraumflugzeugen gesessen. Sie hat jeden Flug genossen, weil er sie in die große weite Welt brachte, aber nicht, weil das touristische Fliegen angenehm war.

Nach ihrem letzten Flug, noch vor dem Corona-Lockdown, hat sie beschlossen, nur mehr zu fliegen, wenn ein ersehntes Ziel nicht anders zu erreichen ist. Die Bahn soll ihr bevorzugtes Reisegefährt sein. Schließlich kann man ja Wolken auch im Vorbeifahren betrachten.

Liebe Erde, bitte erlaube mir den Luxus des Reisens trotz Umweltbelastung, denn ich möchte dich von allen Seiten kennenlernen – von Osten und Westen, von Süden und Norden …

Zum Mutter-Erde-Schwerpunkt 2021.

© Christine Sollerer-Schnaiter 2021-04-28