Guten Morgen, Sonnenschein!

Ich bin frisch in den 19. Bezirk übersiedelt. Am ersten Tag, als ich zur Arbeit aus dem Haustor hinausgegangen bin, ist mir ein sehr gut gestylter, fescher Mann entgegen gekommen. Er ging mit zwei Krücken.

Seine Ausstrahlung war für mich so leidend, dass ich einfach spontan “Guten Morgen!” gesagt habe. Er hat mich ganz verdutzt angeschaut und ich bekam keine Antwort.

Am nächsten Tag, als ich aus dem Haus gegangen bin, kam er mir wieder entgegen und ich sagte wieder “Wunderschönen guten Morgen”. Wieder kam keine Antwort, er war sichtlich überrascht, dass ich ihn gegrüßt habe.

Am dritten Tag kam er erneut und ich sagte wieder: “Wunderschönen guten Morgen” und da kam zurück: “Guten Morgen Sonnenschein!”.

So ging es einige Zeit, er war immer da, wenn ich aus dem Haus ging.

Eines Tages, eine Freundin von mir hat geheiratet, und ich war Trauzeugin. Ich ging in einen Blumenladen und habe Blumen geholt und siehe da: auf einmal kam mir der Mann entgegen und ich sagte wieder: “Wunderschönen guten Morgen!” – “Guten Morgen, Sonnenschein!”

Da kam die Frage: “Heiraten Sie heute, weil sie so hübsch sind und einen Strauß tragen?“ Ich sagte: “Nein, ich bin Trauzeugin und meine Freundin heiratet.”

Da erzählte er mir, wie überrascht er war, dass ich ihn gegrüßt habe und seit dem Tag jeden Tag vor meiner Tür wartet, dass ich komme und ihn mit meinem Strahlen begrüße.

Er hat mir erzählt, dass er eine sehr gute Führungsposition hatte und ein sehr erfolgreicher Manager war. Dann kam der unglückliche Tag, er hat für seine Enkelkinder Kirschen gepflückt und war auf einer Leiter. Ein Fehltritt, er ist von der Leiter gestürzt und hat sich beide Hüften gebrochen.

In seiner Verzweiflung und Unglücklichsein war ich sein Sonnenschein.

Er sagte mir: “Es gibt wenige Menschen wie Sie es sind, die auch einen Krüppel grüßen.”

Und wir haben uns noch viele Male gegrüßt und ich konnte miterleben, wie seine Genesung vorwärts ging. Er war mir dankbar, weil ich ein kleines Stück dazu beigetragen habe, dass er nicht ganz verzweifelt aufgegeben hat.

Ich bin wieder ausgezogen und ihm nicht mehr begegnet, aber ich weiß, dass es ihm gut geht und ich bin glücklich, dass ich ein Teil seines Glückes war.