von Sonja M. Winkler
Ich geh schon viele Jahre zu Conny. Sie besteht auf der Bezeichnung „Haarschneiderin“. Sie kann mit meinem bockigen, dichten Haar umgehen. Und mich plagen keine Albträume mehr.
Zu Weihnachten, nach Vaters Tod, bekam ich eine Gehpuppe, die ich Gundula taufte. Sie hatte echte Haare. Das sind die Haare der Tante Thilde, sagte meine Mutter. Ich kämmte Gundula täglich und machte ihr schöne Stoppellocken. Ich hatte auch Miniatur-Lockenwickler geschenkt bekommen. Jedenfalls gingen der Gundula dann mit der Zeit die Haare aus. Ich verlor jede Lust an ihr, und die Puppe fristete schließlich auf dem Dachboden ein Schattendasein. —
Meine Mutter fängt mich täglich, gleich nachdem ich aufgestanden bin, auf dem Weg zum Klo ab. Die Wohnküche ist zwar groß, aber die Mutter kämmt mein Haar immer zwischen Küchenherd und Kredenz, wo es sehr eng ist. Sie flicht die Zöpfe sehr fest.
Lass ihr doch die Haare schneiden, sagt der Stiefvater zu meiner Mutter, Zöpfe sind heutzutage völlig aus der Mode. Man trägt die Haare kurz. „Bubikopf“ nennt man das. Was in Italien gerade Mode ist, das würde über kurz oder lang auch zu uns kommen, sagt er.
Eines Tages fahren wir mit dem Auto Richtung Pichlingersee. Vor dem Friseursalon Reindl machen wir Halt. Das Geschäft ist leer. Ich werde auf einen Kinderstuhl gebeten mit einem erhöhten Aufsatz. Während der ganzen Prozedur stehen sie hinter mir, meine Mutter und der Stiefvater. Ich kann sie im Spiegel sehen. Der Stiefvater gibt Anweisungen. Meine Mutter sagt nichts. Die Friseurin bindet meine Zöpfe mit Gummiringerl ab. Dann geht’s ritsche ratsche, und die 30 cm langen Zöpfe werden meiner Mutter übergeben. Zehn gespreizte Finger fahren mir dann durchs Haar. Die Zöpfe sind weg, bevor ich mich jemals mit offenen Haaren im Spiegel hab betrachten können.
Meine Haare wurden auf Streichholzlänge geschnitten. Ich fand mich hässlich und trug tagelang ein Kopftuch. Das Schlimmste aber war die Erstkommunion. Alle hatten die schönsten Frisuren und weiße Kleidchen mit Spitzeneinsätzen. Nur ich sah nicht aus wie eine Prinzessin. Ich trug ein gelbes Kostümchen und hatte einen Haarschnitt wie ein Bub.
Als ich nach Wien zog, nahm ich Gundula mit. Ich brachte sie in eine Puppenklinik und wollte ihr aus meinen braunen Zöpfen eine Perücke knüpfen lassen. Das macht man heutzutage nicht mehr, sagte die Frau im Geschäft, denn das sei unbezahlbar und eine Heidenarbeit, die sich nicht lohne. Man müsse Haar für Haar einzeln durch ein Gittergewebe fädeln, außerdem sei das Haar, das ich da vorlege, stumpf und verfilzt.
Sie zeigte mir ein paar Kunsthaarperücken. Da sie von Echthaarperücken gar nicht zu unterscheiden waren, bestellte ich einen brünetten Lockenkopf.
Bis 30 trug ich meine Haare kurz. Ich ging alle sechs Wochen zum Friseur, einfach aus Gewohnheit. Dann beschloss ich, mir die Haare wachsen zu lassen. Und ab 40 opferte ich mit jedem Lebensjahr ein paar Zentimeter, aber freiwillig. Die alten Zöpfe habe ich verbrannt.
© Sonja M. Winkler 2020-06-26