von MISERANDVS
Es ist das erste Mal, dass Lydia und ich uns treffen nach unserer Trennung. Es ist furchtbar, ohne sie zu sein. Und ich bereue jeden Tag, jeden Augenblick, dass ich sie hab gehen lassen. Monate sind es nun, und ich finde keinen Weg zu mir selbst. Sie fehlt mir so unendlich. Jeden Morgen wache ich auf, die Kissen nassgeheult. Ich leide im wenigen Schlaf; ich schlafe wenig im vielen Leiden. Eigentlich möchte ich nicht wirklich reden. Ich möchte sie nur ansehen. Nur eine Frage brennt mir auf der Seele. Ob sie Ja sagen wird? Ob sie wenigstens nicht Nein sagen wird?
Lydia plaudert wie aufgezogen. Ich lausche ihrer Stimme, schaue sie an. Wie schön sie ist! Wie sie die Tasse hält mit ihren schönen Fingern. Mal einer augenblicklich ein Gemälde davon! Von ihren wunderschönen Händen an der schnöden Tasse. Diese vollkommene Eleganz! Ich seufze schmachtend. “Hörst du mir zu?”, schreckt sie mich aus meinem Genuss. “Ja, sicher doch.”, sage ich. Lydia lächelt. Und ich auch. Wie sehr ich sie berühren möchte! Wie sehr ich nur einmal meine Nase an ihren Hals legen will und einmal noch den Duft ihrer Haut in mich atmen will! Wie ich leide, ihr so nah zu sein und Distanz wahren zu müssen!
Irgendwann hab ich den Mut zusammen und frage Lydia , ob sie mit mir nochmal einen Neubeginn wagen möchte. Lydia sagt, ohne lang nachzudenken, Nein. So also fühlt ich Sterben an.
Dann erzählt mir Lydia, wie sie grade auflebt, wie sie säuft und manchmal gar nicht weiß, wie der Typ heißt, der es ihr grad besorgt. Eiskalt wirkt sie, als sie mir im Detail erzählt, welche Praktiken sie mit fremden Kerlen vollzieht. Sie malt mir grausam bis ins kleineste Detail Bilder in den Kopf von sich und anderen Männern. Alle sind sie so viel besser im Bett als ich. Ich ertrage es stoisch, während mein Herz vor Schmerzen schreit. Ich höre ihr regungslos zu, nippe von meinem Kaffee, während ich tausend Tode sterbe. Der Gedanke, dass ein anderer seine Pfoten an sie legt, macht mich wahnsinnig.
Lydia will mir wehtun. Das ist der Grund, warum sie mir diese Geschichten erzählt. Sie weiß, dass ich den Gedanken nicht ertragen kann, ein anderer fasste sie an. Ich höre zu. Es ist in Ordnung, dass sie mir wehtut. Ich hab ihr auch wehgetan, als ich sie gehen ließ. Minute um Minute schleicht dahin, in der wortreich ein neuer Kerl seine Drecksgriffel an ihren schönen Leib legt, in der eine neue Geschichte ihren Anfang nimmt und kein Ende nehmen will. Und ich höre ihr zu, bis Lydia zur Tasse greift und einen Schluck nimmt, ehe eine neue Fick-Geschichte beginnt, schlimmer als alle zuvor.
Eine Stimme in mir fordert wütend, ich solle der dreckigen Hure jetzt und vor allen Leuten ins Gesicht schlagen, damit sie nur endlich die Fresse hält. Langsam greife ich zur Tasse und sage leise: “Es tut mir leid, dass ich dir so fürchterlich wehgetan hab.” Lydia sieht mich schweigend an. Ihre Augen sind heute nicht sanftwarm; sie wollen mich leiden sehen. Lydia schenkt mir ihren Schmerz. Ich lass es zu, nehme ihn widerspruchslos an.
Es ist gerecht.
© MISERANDVS 2021-12-20