von LillyRuth
Sonntagmorgen. Es ist noch früh am Tag. Ich schäle mich aus den Armen meines Mannes, der sich im Halbschlaf an mich schmiegt und flüstere ihm ins Ohr: „Ich muss weg. Zum Attersee.“
„Du musst? Am Sonntagmorgen?“ fragt er. „Ja, ich muss!“ Mehr brauche ich ihm nicht zu erklären. Dass er meine Spleens und Eigenheiten versteht und akzeptiert, ist sein größtes Geschenk an mich. Ich weiß es zu schätzen und packe meinen Rucksack: Ein Getränk, Käsebrote und ein Schokoriegel aus dem Osternesterl der Kinder kommen mit auf den Kurztrip. Dann geht es auf die Autobahn in Richtung Attersee im Salzkammergut. Ein Sehnsuchtsort für mich. Seit Tagen spüre ich den Drang, einfach aufzubrechen und dorthin zu fahren. Heute – an diesem freien Sonntag, an dem es keine Verpflichtungen einzuhalten gilt – gebe ich diesem Gefühl nach und sause einfach los. Als ich an meinem ersehnten Ziel ankomme, begrüßt mich strahlender Sonnenschein. Ich mache eine kleine Rast am See. Dessen glasklares Wasser und die malerische Umgebung überwältigen mich. Das Brechen der Wellen ist Musik in meinen Ohren. Ich bin betört und emotional berührt von diesen Eindrücken. „Warum komme ich nicht öfter hierher? Etwas mehr als eine Stunde Fahrt sind es von zu Hause und doch bin ich hier in einer anderen Welt“, denke ich mir.
Ich unternehme eine Wanderung und begegne zu meiner Verwunderung keinem einzigen Touristen. Wie wunderbar. „Alles meins heute“, höre ich mich denken. Der Wanderweg führt vorbei an malerischen Bauernhöfen, vor denen Hühner in der Erde scharren und man den Mist von Weitem riecht. Ich mag diese spezielle Geruchsmischung. Sie erinnert mich an meine eigene Kindheit auf dem Bauernhof.
Es war ein unbeschwertes Aufwachsen in Freiheit und Wildheit. Ich sehe mich selbst barfuß durch die satte Blumenwiese vor meinem Elternhaus laufen. Ich war ein glückliches und lustiges Kind. Oft dachte ich mir Witze und amüsante Reime aus und trug sie dann meinen Eltern und Geschwistern vor. Ihr Lachen war der Lohn für meine Dichter-Kunst. Erst die Krebserkrankung und der Tod meiner Mutter legten einen Schatten auf meine Seele. Dass nun auch mein Bruder neben ihr im Grab liegt, kann ich bis heute nicht fassen. Doch auch diese Tatsache gehört zu meinem Leben. Ein Leben mit Höhen und Tiefen. Steigflügen und Abstürzen. Eines ist mir aber immer geblieben: das Gehen. Das Auftanken in der Natur. Auch wenn ich nun keinen Ort mehr Heimat nennen kann, so ist Heimat für mich jeder Platz auf der Welt, wo es schöne Blumenwiesen, prachtvolle Bäume und Bauernhöfe, die Mistgeruch verströmen, gibt.
Und so sauge ich auch heute – in dieser wunderschönen Gegend im Salzkammergut – diese Sinneseindrücke in mich auf und bin dankbar für die schönen Erinnerungen an meine Kindheit, die tief in mir abgespeichert sind. Nie können sie mir genommen werden. Und zu jeder Zeit kann ich sie abrufen. Allein das ist ein unendlich großer Schatz. Ich behüte ihn. Das ist mein Versprechen an die, die viel zu früh gegangen sind.
© LillyRuth 2022-04-25