von Marcus Jablonski
„Und Ihr Name ist …?“
„Erzberg.“
„Wie der Berg?“
„Der Berg.“
„Und Ihr Vorname?“
„Keiner.“
„Kaina?“
„Ja.“
Frau Doktor Karola Anders hatte schon viele Klienten in ihrer Anwaltspraxis gesehen, aber noch keinen wie Herrn Erzberg. Das Besprechungszimmer mit Sesseln für zwölf Personen (und Platz für sehr viel mehr) wirkte mit Herrn Erzberg irgendwie … beengt – obwohl ihr neuer Klient nicht gerade groß oder dick zu sein schien. Später würde es ihr überhaupt schwerfallen, ihn und sein Outfit näher zu beschreiben.
„Und was führt Sie also zu mir, Herr Erzberg?“
„Ich möchte, dass man mich in Ruhe lässt. Nicht auf mir rumtrampelt. Ich meine, die Menschen. Die Tiere sind mir egal.“
„Ich fürchte, Sie müssen mir schon genau sagen, wer Sie belästigt. Wir können ja nicht alle Menschen zusammen verklagen.“
„Genau das will ich. Alle Menschen. Weg von mir. Und die Motorräder auch.“
Frau Anders sah Ihr Gegenüber lange an – oder versuchte es zumindest. War das überhaupt ein Mensch, der da vor Ihr saß? Augen, Nase, Mund, Vollbart – alles da. Oder? Erzberg … war das nicht dieser Berg in der Steiermark, in dem seit tausend Jahren Erz abgebaut wurde? Und jedes Jahr ein paar wildgewordene Motorrad-Freaks ihre Fahrkünste testeten, zum Gaudium der Zuschauer?
Hätte Karola Anders nicht eine eher ungewöhnliche Erziehung genossen, wäre das Gespräch ab hier wohl schwierig geworden. Sie hatte die Waldorfschule gehasst, dieses ganze Eurhythmie-Gehopse. Schon aus Trotz war sie Anwältin geworden. Und doch … sogar für eine Anwältin soll es ja mehr Dinge zwischen Himmel und Erde … Sie wissen schon.
Sie klappte ihren Laptop zu und versuchte wieder, Herrn Erzberg in die Augen zu schauen. „Sagen Sie, kann es sein, dass Sie gar kein Mensch sind, sondern – wie soll ich sagen? – Natur?“
„Ich bin der Berg. Der Erzberg.“
Das war’s. Das war die Lösung. Rein rechtlich können nur Personen – natürliche oder juristische – eine Klage einreichen. Deswegen war es bis jetzt nicht gelungen, der Natur einen rechtlichen Schutz der Unversehrtheit zu garantieren. Aber Herrn Erzberg würde man doch vor Gericht anerkennen müssen, oder? Eindeutig eine Person, wenn vielleicht auch kein Mensch.
„Und die anderen Berge, sind das auch Personen?“
„Auch die Flüsse. Und die Wälder. Und die Seen.“
„Wir sind im Geschäft, Herrn Erzberg. Ich übernehme Ihren Fall. Es ist mir sogar eine besondere Ehre, Sie zu vertreten.“
„Ich zahle in Gold und Silber.“
„Darüber reden wir später. Jetzt formulieren wir erst mal Ihr Anliegen. Ich freue mich schon auf die Gesichter am Bezirksgericht Leoben. Oder lieber gleich Verfassungsgericht? Keine Sorge, wir machen das.“
Der Prozess erregte weltweites Interesse, und es gelang den Menschen, sich mit Herrn Erzberg auf eine für beide Seiten akzeptablen Kompromiss zu einigen. Nun hätte wieder Alltag einkehren können, wenn nicht kurze Zeit später eine Frau Themse einen Anwalt in der Londoner City aufgesucht hätte. Das Ende der Vorherrschaft der Menschen hatte begonnen.
© Marcus Jablonski 2021-04-30