von Oliver Fahn
Lange nicht gesehener Paul macht mich betroffen. Da ich mein Grundstück nur im äußersten Notfall verlasse, treffe ich Menschen seines Kalibers seltener, als am 29.2. Geborene ihr Geburtstag widerfährt. Mit der Härte des bloß alle vier Jahre Feiernden, beklemmt mich Pauls Aufkreuzen. Im Postvokabular: Ich möchte als Adressat seines Small Talks unzustellbar bleiben. Unbekannt verzogen allen Einladungen zu Klassentreffen, die einem Zusammentreffen folgen könnten.
Meine Vorbilder? Baumarktfachverkäufer! Niemand vollzieht Untergänge zwischen Regalen beiläufiger. In brenzligen Situationen verwandeln sie sich zu Luft. In Zeiten abnehmender Expertise eine probate Strategie, potentiell fragende Kunden abzuwehren. Wie Söhne stehpinkelnde Väter, imitiere ich die Taktik jener Kompetenzbolzen. Ihre Finten am Kunden will ich auf Paul übertragen. Was unterscheidet ihren Dilettantismus von meiner Laienhaftigkeit, mit der ich vor Ex-Klassenkollege Paul glänzen würde, ließe ich mich zu Fragen hinreißen, deren Antworten mich offensichtlich kaltlassen?
Ich verliere mich in der Hebelwirkung eines greifbaren Hammers, um Pauls Anekdoten beruflicher Entfaltungsfähigkeit auszuweichen. Ich beklopfe einen Balken, der sich neben dem Regal anbietet, um Erzählungen seiner allseitigen Potenz zu entgehen. Lieber klatscht der Hammer auf Holz als Pauls glorreiche Vergangenheit in meinen Kopf. Ich erfasse Paul. Zu spät. Das bringt mich in prekäre Verhältnisse. In die Verlegenheit des gezwungenen Wegsehers. Urplötzlich werde ich Interessent gewöhnlich ungenutzter Werkzeuge. Ich geniere mich der Marionettenhaftigkeit meines Auftritts, der einzig mir möglich erscheinenden Option, ein meinerseits weitgehend sprachloses Treffen abzuwenden. Nach Jahren der Trennung stünde ohnehin eine Biografie im Geschmack vorgelesener Bewerbungsunterlagen ohne Einstellungsabsichten auf der Agenda. Herr Klassenkollege, ich protestiere! Muss ich mich studieren lassen wie eine seltene, innerhalb Europas kaum gesichtete Tierart?
Ich neige zur Mimikry. Bevor ich mich Pauls Mimik anpasse, leugne ich seine Anwesenheit. Gesichtszuckungen als Vorboten eines möglicherweise unvermeidlichen Aufeinandertreffens, versuche ich zu tilgen. Paul hat meine Ruhe weggeblasen. Ich hämmere gegen ihn an. Müsste ich einen Nachholbedarf an Paul haben, den ich nicht verspüre? Gewiss will sein ereignisreicher Lebenslauf auf mich niederhageln. Ein K.-o.-Schlag aus Wortkaskaden träfe mich härter als jede Faust, die meine Nase demoliert. Boden, darf ich in dir versinken? Dass ich solche Infernos in meinem bescheidenen Dasein erleben muss! Meine Beine tippeln, sie möchten den Kopf allein am Brennpunkt zurücklassen. Es ist ein von Anstand gebremstes Duell, das der Kopf für sich entscheidet. Gehen wollende Beine zu bändigen erfordert Disziplin, die ich vom Staub ihrer Verwahrlosung befreien muss, ehe ich sie finde.
© Oliver Fahn 2022-03-22