Herzwurzler

Linnea

von Linnea

Story

Mit dem Einzug in das Haus nahmen wir ihn in Pflege. Er war hinter seinem Alter zurückgeblieben, schwächlich, in bedauernswertem Zustand. Sorge bereitete uns ein Würgemal, offensichtlich war er angebunden gewesen. Wie er so dastand, erweckte er unser Mitleid, und wir entschlossen uns, ihn aufzupäppeln. Keine leichte Aufgabe. Ein Blick in seinen Stammbaum: Seine Vorfahren stammten aus dem Südosten der USA. Würde er den Winter bei uns überstehen? Immerhin wohnen wir nicht auf dem flachen Land. Sonnenhungrig wäre er auch. Sein Plätzchen lag aber gänzlich im Schatten des Nachbarhauses. Das größte Problem: Er würde, wenn er sich wohlfühlt, riesengroß. 15 Meter, keine Seltenheit. Das geht nicht! Schließlich gewann Herz vor Vernunft. Der Kleine durfte bleiben.

Wir schützten ihn vor Eiseskälte mit einem Mantel. Es funktionierte. Er hatte keine Frostbeulen mehr. Das Pflegeprogramm schlug an. Er legte einen Jahresring nach dem anderen zu. Sonnenlicht konnten wir ihm keines ermöglichen, aber nach und nach behob er dieses Problem selbst. Mit jedem Zentimeter wuchs er zur Sonne. Bis er es geschafft hatte, dass er sie, wenn sie in der warmen Jahreszeit über das Nachbarsdach stieg, einfangen konnte. Das gab ihm einen ordentlichen Wachstumsschub. Er füllte bald den Raum zwischen beiden Häusern und streckte sich immer mehr nach Westen. Wir konnten ihn verstehen und freuten uns über die Kühle, die er unserem Schlafzimmer mit seinem Blätterdach schenkte. Ruhelose Vollmondnächte hielt er fern, und Gelsen störten den Schlaf nicht mehr.

Bald breitete er im Sommer ein Blütenmeer vor unsere Fenster im Obergeschoß. Mit großen Rispen wie Kastanienblüten bedankte er sich für unsere Mühe. Er wuchs uns mehr und mehr ans Herz. Der Nachbarin weniger. Obwohl er nur das Fenster eines gewissen Örtchens beschattete, entlud sich ihre Verständnislosigkeit mit jedem Herzblatt, das unser Trompetenbaum fallen ließ. Sie hob es auf, um es über ihre Thujenhecke zurückzubefördern. Er war ohnehin bemüht, ihr nicht allzu viel Arbeit zu machen. Nach dem ersten Frost, wenn der Herbstwind durch die Blätter pfiff, schüttelte er alle Blätter so gut er konnte auf einmal ab. Umgehend erhielten wir sie über den Zaun zurück, was wir gern ich Kauf nahmen. Die langen Samenschoten behielt er bis zum nächsten Frühjahr.

Die Krone wurde immer mächtiger und neigte sich immer mehr dem Nachbarsdach zu. Wir bangten bei jedem Gewitter um ihn, denn seine Standfestigkeit schien in den letzten Jahren der Herausforderung seiner Kronenlast nicht mehr Stand zu halten. Es passierte dann letzten Sommer. Er verlor er einen riesigen Ast- auf unserer Seite. Nun schlug Vernunft Herz.

Kein Platz für Bagger. Wir erwiesen ihm die letzte Ehre durch tagelanges händisches Graben. Die gewaltigen Wurzeln hatten sich seitlich verzweigt, waren dann schräg nach unten gewachsen und bildeten auf diese Weise ein Herz.

© Linnea 2021-04-22